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presse - artikel

Andreas Kilb

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Von der Kunst des Lesens in Berlin

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Wenn man liest, der Dichter X oder die Dichterin Y hätten auf diesem oder jenem Literaturfestival aus ihren Werken vorgetragen, stellt man sich die Szene oft falsch vor: oben die Literatur, einsam auf hohem Podest, darunter das lauschende Publikum. In Wahrheit ist eine Schriftstellerlesung etwas ganz anderes: ein Wortkonzert für mindestens zwei, manchmal auch drei oder mehr Stimmen, das, wenn es misslingt, eine öde und traurige Kakophonie, im Idealfall aber ein wundervolles Klangerlebnis ist, ungefähr so, wie man es auf Tizians ,,Konzert“ von 1511 sieht. Da spielt ein Mann auf einer Orgel, ein zweiter hält ein Saiteninstrument, ein dritter hört zu. Aber die Rollen können sich jederzeit umkehren.
   Dann sitzen zum Beispiel der Schriftsteller Lars Gustafsson und der Kritiker Arno Widmann auf einer Bühne im Foyer des Hauses der Berliner Festspiele. (…)
   Oder Anne Enrights Auftritt am selben Tag im Seitensaal des Berliner Festspielhauses. Die Irin, deren Roman „Anatomie einer Affäre“ schon vorletztes Jahr erschienen ist, hatte ihren Übersetzer Hans-Christian Oeser und die Schauspielerin Sabine Falkenberg mitgebracht. Oeser sprach mit Enright über den Wirtschaftsboom Irlands vor 2008 und die Art, wie sich der Boom und sein Ende in ihrer Geschichte eines Ehebruchs spiegeln. Falkenberg trug mit Verve eine Hotelszene aus dem Buch vor. Enrights eigene kurze Lesung einer kaum zwei Seiten langen Textpassage aber fasste beides zusammen, den Sinn und den Ausdruck. Man spürte ihren Humor, ihren Zorn. Und man sah, was sie sah: eine Welt der Gier, kurz vor dem Zusammenbruch.

 

(Frankfurter Allgemeine Zeitung, 19. September 2013)
 

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