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Hans-Christian Oeser

 

Freiheit für Julian Assange

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Guten Abend!

      Ich arbeite als freier Übersetzer und Herausgeber und habe im Laufe der Jahre und Jahrzehnte auch viel amerikanische Literatur ins Deutsche gebracht.
     Die amerikanische Literatur liegt mir am Herzen.
     Die amerikanische Demokratie liegt mir am Herzen.
     Die in der amerikanischen Verfassung verankerte Meinungs-, Rede- und Pressefreiheit liegt mir am Herzen.
     Deswegen stehe ich heute hier vor der Botschaft der USA in Berlin, um gegen die drohende Auslieferung des australischen Journalisten und Politaktivisten Julian Assange durch die britische Justiz an die amerikanischen Strafverfolgungsbehörden zu protestieren. Wegen der Veröffentlichung interner Dokumente der US-Streitkräfte auf WikiLeaks ab März 2010 ist Assange in den USA der Spionage in insgesamt siebzehn Punkten angeklagt – der Spionage, ein abstruser, ein absurder Vorwurf.
     Julian Assange, inzwischen 51 Jahre alt, nach zwölf Jahren kollektiver Verfolgung durch Schweden, Großbritannien und die USA, nach sieben Jahren Exil als politischer Flüchtling in der Botschaft Ecuadors in London, nach dreieinhalb Jahren Isolation in britischer Haft physisch und psychisch stark gezeichnet, ist zum Symbol geworden, zum Symbol dafür, wieviel Mut und wieviel Zivilcourage es braucht, um die Wahrheit über die Kriege und die Kriegsverbrechen der USA in Afghanistan und im Irak zu verbreiten, zu einem Symbol dafür, mit welcher Gnadenlosigkeit die amerikanische Justiz, die amerikanische Politik und der hinter ihr stehende militärisch-industrielle Komplex Personen verfolgt, die Risiken für Leib und Leben auf sich nehmen, um illegale Machenschaften der Mächtigen aufzudecken. Denken Sie an den Whistleblower Daniel Ellsberg und die Pentagon-Papiere 1971, denken Sie an den Whistleblower Edward Snowdon und die NSA-Affäre 2013.
     Aber wir wollen kein Symbol retten, wir wollen die Freiheit, ja das Leben eines Menschen aus Fleisch und Blut retten. Assange darf unter keinen Umständen an die USA ausgeliefert werden, wo ihm wegen vorgeblicher Spionage bis zu 175 Jahre Haft drohen oder gar die Todesstrafe, wo ein Klima herrscht, in dem Politiker und Journalisten ungestraft dazu aufrufen konnten, den „Verräter“ und „Hurensohn“ hinzurichten, ihn aufzuknüpfen, ihn zu erschießen oder mittels einer bewaffneten Drohne zu ermorden.
     Wir alle sind, zu Recht, entsetzt und empört über den völkerrechtswidrigen Angriffskrieg Rußlands gegen die Ukraine. Dennoch gilt, unter Abwandlung eines bekannten Wortes von Max Horkheimer:
     Wer aber von den Kriegsverbrechen der USA nicht reden will, sollte auch von den Kriegsverbrechen Rußlands in der Ukraine schweigen.
     2010 hat Julian Assange „geredet“: Mit der Bekanntmachung Tausender Militärprotokolle hat er Stellung bezogen gegen den mit Lügenpropaganda vorbereiteten völkerrechtswidrigen Angriffskrieg der USA gegen den Irak, der vielen Schätzungen zufolge eine halbe Million Menschen das Leben gekostet hat.
     Man mag von Julian Assanges mitunter krausen politischen Positionen halten, was man will – sein Recht, die Wahrheit offenzulegen, muß außer Frage stehen. Assange hat nicht spioniert; er hat geheime Militärdokumente publik gemacht, die ihm von dem Whistleblower Bradley (später Chelsea) Manning zugespielt wurden. Als investigativer Journalist hat er nichts anderes getan, als von seiner verbrieften Meinungs-, Rede- und Pressefreiheit Gebauch zu machen, und die von ihm begründete Enthüllungsplattform WikiLeaks dazu genutzt, diese brisanten Informationen einer weltweiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen.
     Dank ihm, und nur dank ihm, wissen wir besser Bescheid über das brutale Vorgehen der USA im Irak. Am berüchtigsten sind wohl die Folterungen im Gefängnis Abu Ghuraib bei Bagdad und das Video „Collateral Murder“, das die tödliche Beschießung nicht an Kampfhandlungen beteiligter Iraker durch zwei US-Hubschrauber und die hämische Freude der daran beteiligten Soldaten zeigt.
     Gestatten Sie einen historischen Vergleich. Hätte es im August 1964 einen Whistleblower gegeben und auch nur einen Menschen, der die wahren Hintergründe des sogenannten „Zwischenfalls von Tongking“ offengelegt hätte, wer weiß, ob nicht der Druck der amerikanischen Öffentlichkeit so groß gewesen wäre, daß dem vietnamesischen und auch dem amerikanischen Volk ein verheerender Krieg erspart geblieben wäre. Am 4. August 1964 behauptete die US Navy ohne auch nur die geringsten Belege, nordvietnamesische Schnellboote hätten amerikanische Kriegsschiffe beschossen. Dies war der Vorwand für ein direktes und massives Eingreifen in den Vietnamkrieg – eine bewußte Falschdarstellung zur Durchsetzung des bereits seit dem Vorjahr geplanten Kriegseintritts der USA, der unendliches Leid über Vietnam gebracht hat. Freie Erfindungen und geschickte Inszenierungen dieser Art seitens der Regierungen sind die eigentlichen Fake News, die Frieden und Sicherheit gefährden und unterminieren.
     Wir brauchen Whistleblower, und wir brauchen Menschen wie Julian Assange, um vorsätzlichen Täuschungen und systematischen Verdrehungen der Wahrheit auch in Ländern der sogenannten freien Welt entgegentreten zu können.
     Wir fordern:
•    Keine Auslieferung Julian Assanges an die USA!
•    Sofortige Freilassung Julian Assanges aus britischer Haft!
•    Sofortige Rücknahme der Anklage gegen Julian Assange!
•    Straffreiheit für Whistleblower!

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Rede, gehalten am 9. Dezember 2022 auf der Mahnwache des PEN-Zentrums Deutschland für Julian Assange vor der Botschaft der Vereinigten Staaten von Amerika in Berlin

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