presse : interviews
Cornelia Geißler
Alter Glanz in frischem Ton
Bücherfrage der Woche
William Makepeace Thackerays Roman „Jahrmarkt der Eitelkeit“ ist berühmt – aber kaum noch wirklich bekannt. Nun erscheint bei Reclam eine Neuübersetzung dieses 900-Seiten-Buchs von Hans-Christian Oeser, einem Übersetzer, der gerade durch die schmalen Bücher von Claire Keegan viel Aufmerksamkeit bekam. Bevor er seine Arbeit im Buchhändlerkeller präsentiert, möchten wir wissen: Wie war es, dieses Werk für die Gegenwart zu übersetzen?
Hans-Christian Oeser: Alle Welt ist sich einig, dass dieser Roman eine höchst vergnügliche Lektüre bietet. Er funkelt geradezu von Scherz, Satire, Ironie und tieferer Bedeutung. Die Herausforderung der Neuübersetzung bestand also nicht nur darin, die schiere Textmenge zu meistern und den Überblick zu behalten über ein vielköpfiges Figurenensemble und eine verschlungene Handlung an unterschiedlichsten Schauplätzen (darunter das süffisant geschilderte deutsche Großherzogtum Pumpernickel!), sondern vor allem darin, den bestechenden Glanz dieser Prosa einzufangen, einen ebenso eleganten wie frischen Ton zu finden, der dem Sprachgestus des Originals verpflichtet bleibt, ohne deshalb antiquiert zu wirken.
Der Roman ist Gesellschaftsporträt (der englischen Aristokratie und Bourgeoisie in Napoleons Schicksalsjahr 1815 und danach) und Charakterstudie (der selbstbewussten Intrigantin Becky Sharp) in einem, sein Thema ist die Überlagerung und Zerstörung „wahrer Empfindung“ durch Selbstsucht, Besitzgier und Dünkel, sein Ziel die Entlarvung von Heuchelei, Verstellung und Maskerade. Ja, er ist mittlerweile 175 Jahre alt, doch hält er auch unserer Gegenwart den Spiegel vor.
Auch wir bewegen uns auf dem Jahrmarkt der Eitelkeit, auch wir sind, bei aller individuellen Freiheit, den Zwängen des Marktes unterworfen, sind wie Thackerays Figuren Marionetten, an unsichtbaren Drähten gezogen. Allein die permanente Selbstdarstellung, damals beim Diner, im Salon oder gar bei Hofe, heute in den sozialen Medien! Der ökonomische und soziale Performancedruck lastet auf uns allen. Denn wie schon das im selben Revolutionsjahr 1848 erschienene Kommunistische Manifest diagnostizierte, hat der Kapitalismus „kein anderes Band zwischen Mensch und Mensch übrig gelassen, als das nackte Interesse, als die gefühllose ‚baare Zahlung‘.“
(Berliner Zeitung, 11. März 2024)