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presse - artikel

Hanna Mainzer

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Wo ist der englische Thomas Mann?

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Hans-Christian Oeser, Gast im Schriftstellerhaus, über Autoren und sein Stipendium

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Fragt man den literarischen Übersetzer, Herausgeber und Publizisten Hans-Christian Oeser nach Autoren, die er besonders gern ins Deutsche übersetzt, wartet man zunächst lang auf eine befriedigende Antwort. Thomas Hardy sei einer seiner Favoriten, meint er ein wenig zögernd, und auch Jennifer Johnston habe ihm damals, als er ihren Roman "Freistatt für Narren" für den Reclam Verlag übersetzte, sehr am Herzen gelegen. Aber dann kommt die Auskunft, die jene ersehnte persönliche Note ins lockere Stammtischgeplänkel im Stuttgarter Schriftstellerhaus bringt, die auch germanistisch geschulte Scheuklappenträger aufatmen lässt: "Eigentlich liegen mir weniger Autoren, die viel mit Dialogen und mit Slang arbeiten. Ich habe einen Hang zur 'schönen' Sprache. Im Grunde genommen suche ich einen englischen Thomas Mann."

      Seit sechzehn Jahren lebt der gelernte Lehrer, Hochschuldozent und Übersetzer zusammen mit seiner englischen Frau und zwei Kindern, die sich hartnäckig weigern, Deutsch zu lernen, in Dublin. Oeser ist ein vielseitiger Literat, der sich nach absolviertem Germanistik~ und Politologiestudium in Marburg und Berlin nach wie vor für politische Themen zeitgenössischer Autoren stark macht. Neben inhaltsbezogener Aufgeschlossenheit (ohne die seine Arbeit im bürgerkriegsgeschüttelten Irland wohl kaum vorstellbar wäre) besitzt Oeser wohl auch so etwas wie einen langen handwerklichen Atem, der ihn auf mehreren Gebieten Fuß fassen ließ. So ist er neben seiner Tätigkeit als Übersetzer auch als Herausgeber bekannter englischsprachiger Autoren tätig (zu denen auch der irische Literaturnobelpreisträger Seamus Heaney gehört), arbeitet bei Zeitschriften mit, erteilt Deutschunterricht am Goethe-Institut in Dublin und verdingt sich als Autor anspruchsvoller Irland-Reiseführer, die er in regelmäßigen Abständen auf den Markt bringt. Sein Hauptaugenmerk hat der inzwischen Sechsundvierzigjährige jedoch auf die Tätigkeit gelenkt, die neben linguistischem Know-how auch ein Höchstmaß an Einfühlungsvermögen abverlangt: das Übersetzen von englischen und irischen Autoren in eine Sprache, zu der ihm seit sechzehn Jahren der direkte Kontakt weitgehend fehlt.

  "Es gibt heute mehr Anglizismen im Deutschen als noch vor sechzehn Jahren", sagt Oeser ein wenig augenzwinkernd auf die Frage, wie er eigentlich mit der gesprochenen deutschen Sprache zurechtkomme. Aber immerhin sei er jetzt aufgrund seines dreimonatigen Stuttgart-Stipendiums in der Lage, die deutsche Sprache "hautnah" zu erleben, so daß er die Gefahr, in ein "gräßliches Schulbuchdeutsch" zu verfallen, nicht mehr als so gravierend betrachte. Seine Projekte hier in Stuttgart bezögen sich in erster Linie auf die Übersetzung einer neuen Arbeit von Patrick McCabe, dessen Roman "Der Schlächterbursche“ bereits vor einem Jahr erschienen ist und der als Bühnenfassung (ebenfalls von Oeser übersetzt) unter dem Titel "Frank Schwein sagt hallo" im kommenden Frühjahr im Stuttgarter Kleinen Haus zur deutschsprachigen Erstaufführung kommen werde.

    Nein, zur Dramatik habe er keinen besonderen Bezug, meint Oeser auf die Frage, ob er wohl künftig mehr Bühnenstücke übersetzen wolle. lhn ziehe es eher zur Lyrik. Nur, zur Übersetzung von Gedichten fehle ihm schlichtweg die Zeit.

      Eigentlich ein Jammer. Aber das ist wohl eine weitere Realität im Arbeitsalltag von Intellektuellen, die sich aus purer Lust der Zweisprachigkeit gewidmet haben. Ein weites Feld.

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(Stuttgarter Nachrichten, 3. August 1996)

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