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OFFENER BRIEF
AN BUNDESPRÄSIDENT FRANK-WALTER STEINMEIER
21. Mai 2025
Sehr geehrter Herr Bundespräsident,
im Oktober 2021 hatte ich das Privileg, Sie als einer von vier Ehrengästen bei Ihrem Staatsbesuch in der Republik Irland begleiten zu dürfen, einem ganz und gar unproblematischen Staatsbesuch. Alles andere als unproblematisch war Ihr jüngster Staatsbesuch in Israel, dem ein Besuch des israelischen Präsidenten Isaac Herzog in Berlin vorausging.
Zu Recht hatten Sie bei einem früheren Empfang Isaac Herzogs im September 2022 betont: „Für das Menschheitsverbrechen der Shoah trägt mein Land eine Verantwortung, die niemals vergeht. Die Erinnerung an das, was geschehen ist und geschehen kann, muss uns eine Mahnung sein, für die Gegenwart und für die Zukunft: damit es nicht wieder geschieht. Nie wieder!“
Aber beherzigen Sie selbst diese Mahnung?
Isaac Herzog war einer der Ersten innerhalb des israelischen Staatsapparats, der mit seinen Äußerungen zur Bevölkerung des Gazastreifens, nämlich dass es dort keine unschuldigen Zivilisten gebe, dem Völkermord, der sich seit mehr als eineinhalb Jahren vor unser aller Augen abspielt, rhetorisch den Weg ebnete.[1] Herzog wurde mit allen militärischen Ehren empfangen, und in Ihrer Begrüßungsrede wurden Sie nicht müde, vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte und dem Gebot der Aussöhnung die Freundschaft zwischen den beiden Staaten sowie Ihre persönliche Freundschaft mit „Buji“ zu unterstreichen. Doch selbst in Berlin leugnete Ihr Gast, dass Israel vor fast drei Monaten eine totale Blockade über den Gazastreifen verhängt hat und das Aushungern der Bevölkerung als Kriegswaffe einsetzt. Mitglieder des israelischen Kabinetts geben es unverhohlen zu, Herzog hingegen sprach von „falschen Informationen. Da geht es um psychologische Kriegsführung durch die Hamas“.
Schlimmer noch, bei Ihrem Gegenbesuch in Israel haben Sie sich von Premierminister Benjamin Netanjahu empfangen lassen, ihn vielleicht sogar mit „Bibi“ angeredet.
Sie haben einem Mann die Hand geschüttelt, der wegen Korruption vor Gericht steht und seinen verbrecherischen Krieg gegen den Gazastreifen unter anderem deshalb fortführt, weil er sich einer Verurteilung zu entziehen sucht und sich um jeden Preis an die Macht seines Regierungsamtes klammert.
Sie haben einem Mann die Hand geschüttelt, dem der Internationale Gerichtshof in seinem vorläufigen Urteil vom 26. Januar 2024 bescheinigt, es gebe „plausible“ Gründe für die Annahme, dass seine Regierung genozidale Akte in genozidaler Absicht verübt.
Sie haben einem Mann die Hand geschüttelt, den der Internationale Gerichtshof in seinem Gutachten vom 19. Juli 2024 aufgefordert hat, die völkerrechtswidrige Besetzung des Westjordanlands unverzüglich zu beenden, die illegalen israelischen Siedlungen aufzulösen, vertriebenen Palästinensern die Rückkehr zu ermöglichen und Reparationen zu zahlen, einem Mann, der die faktische Annektierung des Westjordanlands stattdessen nur umso entschiedener vorantreibt.
Sie haben einem Mann die Hand geschüttelt, gegen den seit dem 21. November 2024 ein Haftbefehl des Internationalen Strafgerichtshofs wegen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit vorliegt, einem Mann, der Bundeskanzler Friedrich Merz nichtsdestotrotz in Deutschland willkommen wäre.
Sie haben einem Mann die Hand geschüttelt, der unmissverständlich klargestellt hat, dass Israel einer Zwei-Staaten-Lösung niemals zustimmen wird, einem Mann, der vor der UN-Generalversammlung bei gleich zwei Gelegenheiten mit einer Landkarte des Nahen Ostens auftrat, auf der Palästina vollständig ausgelöscht und das palästinensische Staatsgebiet, bestehend aus dem Westjordanland und dem Gazastreifen, Israel zugeschlagen wurde, einem Mann, der den durch nichts zu rechtfertigenden Anschlag der Hamas auf Zivilisten am 7. Oktober 2023 nutzt, um seine langgehegten geostrategischen Ambitionen zu verwirklichen, einem Mann, der eine politische Parole verwendet, die zu skandieren in Deutschland unter Missachtung der Meinungsfreiheit unter Strafe steht: „From the river to the sea – Erez Israel!“
Sie haben einem Mann die Hand geschüttelt, der den unter amerikanischer Beteiligung mit der Hamas ausgehandelten und unterzeichneten Waffenstillstand einschließlich der Freilassung der am 7. Oktober 2023 verschleppten Geiseln mutwillig gebrochen und die Kampfhandlungen gegen die Bevölkerung des Gazastreifens mit dem Ziel vollständiger Zerstörung und ethnischer Säuberung[2] wiederaufgenommen hat.
In Ihrer Berliner Begrüßungsrede sprachen Sie von Israels Recht auf Selbstverteidigung nach dem Überfall der Hamas. Es gibt jedoch kein Recht auf Vernichtung und Vertreibung, weder auf Binnenvertreibung noch auf Vertreibung aus dem angestammten Heimatland. Sie äußerten Verständnis für das „Dilemma“, in dem sich Israel befinde, da die Hamas Zivilisten als menschliche Schutzschilde benutze und Hilfsgüter unterschlage.
Wissen Sie nicht, dass sämtliche Hilfsorganisationen der Vereinten Nationen sowie sämtliche Nichtregierungsorganisationen den verzerrenden Darstellungen Israels vehement widersprechen? Wissen Sie nicht, dass es die israelische Armee ist, angeblich die „moralischste“ der Welt, die palästinensische Zivilisten als menschliche Schutzschilde missbraucht, indem sie sie auf die Motorhaube eines Jeeps schnallt oder in eine israelische Uniform steckt und in Tunnel und Gebäude vorschickt? Wissen Sie nicht, dass die israelische Armee systematisch Krankenhäuser, Schulen, Universitäten, Moscheen, Kirchen und Altertümer bombardiert, um jede gesundheitliche Versorgung der Bevölkerung zu verhindern und alles auszulöschen, was an palästinensische Bildung und Kultur erinnert? Wissen Sie nicht, dass die israelische Armee Rettungsfahrzeuge und Feldküchen beschießt, Sanitäter, Journalisten und UN-Angestellte ermordet, um Nahrungsmittel anstehende Menschenansammlungen massakriert, die Ermordeten in Massengräbern verscharrt? Wissen Sie nicht, dass die israelische Armee ganze Großfamilien eliminiert? Wissen Sie nicht, dass in israelischen Gefängnissen mehr als zehntausend Palästinenser einsitzen, viele Tausende davon ohne Anklage oder Verfahren festgehaltene „Geiseln“, von der Folter, der sie ausgesetzt sind, ganz zu schweigen?
Herr Bundespräsident, werden Sie in den kommenden Jahren behaupten können, Sie hätten es nicht gewusst? Sie hätten nicht ahnen können, dass die Bevölkerung von einer Ecke des Gazastreifens in die andere gejagt wird, dass die „sicheren Zonen“ in Wahrheit Todeszonen sind, dass 90 Prozent der Häuser im Gazastreifen zerstört oder beschädigt sind, dass 70 Prozent der Todesopfer Frauen und Kinder sind, dass der israelische Vernichtungsfeldzug bislang mindestens 54 000, vermutlich sogar bis zu 100 000 Menschenleben gefordert hat (in der Ukraine entspräche dies umgerechnet 2 Millionen Menschenleben)?
In Ihrer Rede baten Sie darum, die israelische Regierung möge sich „bemühen“, die Lieferung von Hilfsgütern wieder zuzulassen. Oh, Benjamin Netanyahu hat umgehend reagiert. Eine Woche lang dürfen ein paar Lastwagen in den Gazastreifen einfahren, denn: „Our best friends in the world […] have warned that they cannot support us if images of mass starvation emerge. We must avoid famine, both for practical reasons and diplomatic ones.“ Diese Haltung ist an zynischer Augenwischerei nicht zu überbieten. „Bilder des Verhungerns“ dürfen nicht entstehen, das Hungern und Morden aber soll weitergehen, bis Trumps und Netanjahus Plan der „freiwilligen Aussiedlung“ aus dem Gazastreifen durchgeführt ist. Sind Sie einer dieser „besten Freunde“, Herr Bundespräsident?
Wie kommt es, dass Juden in aller Welt, vor allem aber in Israel selbst, die schärfsten Kritiker der expansionistischen, in Teilen faschistischen Netanjahu-Regierung sind, das „wertebasierte“ Deutschland aber schweigt? Da ist die deutsche „Staatsräson“, ein vordemokratischer, für machavellistische Fürsten geprägter Begriff, der jeglicher Rechtsgrundlage entbehrt. Sie ist die Leitlinie, die es Deutschland ermöglichen soll, sich durch vorbehaltlose Unterstützung gegenwärtigen Unrechts von begangenem Unrecht freizukaufen, durch das einseitige Beharren auf dem Existenzrecht Israels die Anerkennung des Existenzrechts Palästinas hinauszuzögern, unter dem Vorwand der (überaus notwendigen!) Antisemitismusbekämpfung jegliche Kritik an staatlichem Terror zu unterbinden. Sie ist die Bankrotterklärung aller Moral und allen Rechts.
Herr Bundespräsident, ich kann nicht sagen, dass ich enttäuscht bin. Ich habe nichts anderes erwartet. Wie die übergroße Mehrheit der deutschen Politik, wie die übergroße Mehrheit der deutschen Medien verschließen Sie die Augen vor der Wahrheit, haben geschwiegen, als die große Lehre aus dem singulären deutschen Völkermord an den europäischen Juden, das „Nie wieder“, in ein „Nie wieder wir, andere aber doch“ verkehrt wurde. Das deutsche „Schweigen über so viele Untaten“ (Bertolt Brecht) trägt gewaltige Mitschuld an den Verbrechen des Staates Israel; deutsche Worte, insbesondere das Beschwören „unverbrüchlicher Solidarität“ angesichts größter Unmenschlichkeit, töten ebenso effektiv wie deutsche Waffen. Wollen Sie wirklich, daß Ihre Worte, die geäußerten wie die nicht geäußerten, dazu zählen?
Mit freundlichen Grüßen
Hans-Christian Oeser
PS. O-Ton Moshe Feiglin auf TV Channel 14: „The enemy is not Hamas, nor is it the military wing of Hamas. [… ] Every child in Gaza is the enemy. We need to occupy Gaza and settle it, and not a single Gazan child will be left there. There is no other victory.“
[1] „It is an entire nation out there that is responsible. It is not true, this rhetoric about civilians not aware, not involved. It is absolutely not true.“ (Isaac Herzog, 12. Oktober 2023)
[2] Finanzminister Bezalel Smotrich: „Israel is destroying everything that’s left of the Gaza Strip. […] The army is leaving no stone unturned. We are conquering, cleansing and staying in Gaza until Hamas is destroyed.“