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Helmut Heidenreich

 

Bildhafter Märchenerzähler

 

GELNHAUSEN – (hei). Es war den beiden schon seit Längerem eine Herzensangelegenheit: Den irischen Schriftsteller Oscar Wilde und sein Werk zum Thema einer Lesung zu machen. Auf Einladung der Brentano Buchhandlung und deren Inhaber Tobias Gros war Hans Christian Oeser ins Romanische Haus gekommen, um aus seiner Übersetzung einer besonderen literarischen Stilrichtung Wildes, den Märchen, zu lesen. Es war zum vierten Mal, dass Oeser zu einer Lesung nach Gelnhausen gekommen ist. Der Literaturübersetzer, der in Berlin und Dublin lebt, hat private Verbindungen in die Barbarossastadt, wie er verriet, und nutzte in den letzten Jahren die Zeit der Buchmesse in Frankfurt für seine literarischen Auftritte in den Mauern der Stadt.

 

Der Kaisersaal im Romanischen Haus war sehr gut besucht. „Ich freue mich, wieder hier sein zu können“, begann Oeser seine Vorstellung, die nicht nur in einer Lesung aus den zwei Bänden aus Wildes Märchenerzählungen bestand, sondern auch in einer ergänzenden und Hintergründe aufzeigenden Schilderung der Person und Charakteristik des Schriftstellers sowie seiner literarischen Zielsetzung. In Bezug auf die Märchen Wildes erläuterte Oeser, dass diese überwiegend dieselben Merkmale aufwiesen, wie sie in klassischen Volksmärchen zu finden seien: sprechende Tiere und Pflanzen, austauschbare Charaktere, magische Kräfte sowie die Dreierreihung. Einen Unterschied aber hob er hervor: Enden die klassischen Volksmärchen oft mit „und wenn sie nicht gestorben sind, so leben sie noch heute“, so sei der Tod bei den Figuren in Wildes Märchen präsent: „Bei Oscar Wilde sterben die Leute.“ Das erste Beispiel aus der Märchensammlung, „geschrieben nicht für Kinder, sondern für kindliche Leute von acht bis achtzig“, war die Erzählung „Der selbstsüchtige Riese“. „Dieses Märchen hat eine christliche Dimension, ganz im Gegensatz zu dem, was Oscar Wilde sonst vertrat“, so Oeser. Der selbstsüchtige Riese sieht nach der Rückkehr von einer Reise Kinder in seinem Garten spielen. Er trifft Maßnahmen, um die Kinder dauerhaft von seinem Gelände fernzuhalten, denn er möchte dieses ganz für sich allein haben. Als Folge der fehlenden Kinder weigert sich allerdings der Frühling, in den besagten Garten einzuziehen. Bäume und Blumen blühen nicht mehr, die Vögel bleiben aus, Schnee, Eis und Hagel beherrschen ganzjährig die Szenerie. Plötzlich jedoch ändert sich das Geschehen, denn die Kinder haben sich trotz des Verbotes wieder Zutritt zu dem Garten verschafft, Frühling, Sommer und Herbst kommen zurück. Der selbstsüchtige Riese ändert im Laufe dieser Handlung sein Wesen und seine Haltung grundsätzlich. Mit entscheidend bei diesem Prozess ist ein kleiner Junge, mit dessen Figur Wilde ganz direkt Bezüge zu Jesus Christus schafft. Spannend, mit einer lebendigen und bildhaften Sprache, bringt Oeser die Geschichte zu Gehör.

 

Wie ein Film läuft die Handlung in der eigenen Fantasie ab. Ebenso bei dem zweiten Beispiel „Die Nachtigall und die Rose“. Eine Nachtigall opfert darin ihr eigenes Leben, um eine Rose erblühen zu lassen, die einem jungen Mann helfen soll, seine Angebetete zu erobern. Allerdings umsonst, mit einer für Wilde „typischen Wende“ zum Schluss, wie Oeser ausführte. Aus der Höhe zurück zur Realität. Der irische Schriftsteller, so war aus den erläuternden Beschreibungen Oesers zu erfahren, war eine außergewöhnliche Person. „Ein Meister der Nichtidentität“, in mehreren Welten lebend, dem alles Vulgäre verhasst war und der auf Kleidung größten Wert legte. Genug Stoff, um mehr als einen Abend zu füllen. Den Zuhörern blieb ein gelungenes und beeindruckendes Erlebnis, aus dem sicherlich jeder für sich etwas Gedankliches mitnehmen konnte. Vielleicht das Zitat des Schriftstellers, mit dem Tobias Gros den Abend eröffnet hatte: „Versuchungen sollte man nachgeben, wer weiß, ob sie wiederkommen.“

 

(Gelnhäuser Tageblatt, 14. Oktober 2015)

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