Liane von Billerbeck
Mark Twain würde sich „den Empörten anschließen“
Übersetzer Oeser über Twains „Meine geheime Autobiografie“
Viele Passagen der 100 Jahre nach Mark Twains Tod erschienenen Autobiografie seien sehr aktuell, sagt deren Übersetzer Hans-Christian Oeser. Angesichts der sogenannten Finanz- und Bankenkrise würde Twain sich in der heutigen Zeit sehr gut wiedererkennen können.
Liane von Billerbeck: Es ist ein editorisches Mammutprojekt gewesen und in den USA längst ein Bestseller, die geheime Autobiografie Mark Twains. Nun ist sie auch auf Deutsch zu haben, 40 Jahre hat der Mann daran geschrieben. Und weil Mark Twain kein Mensch war, der es sehr mit der Etikette hatte, und seiner Frau aber auch nichts antun wollte, die sehr auf Schicklichkeit bedacht war, da hat er verfügt, dass diese Autobiografie erst 100 Jahre nach seinem Tod erscheinen soll, dass er also wie aus dem Grab spricht. An diesem Projekt hat in der amerikanischen Fassung ein ganzes Herausgeberteam gesessen, an der Universität in Berkeley. Die deutsche Fassung, die hat ein einzelner Mann übertragen, Hans-Christian Oeser, und er ist mein Gast. Herzlich willkommen!
Hans-Christian Oeser: Vielen Dank!
von Billerbeck: Dieses Ringen um die Autobiografie, wie ging das eigentlich alles vor sich?
Oeser: Ja, Sie hatten eben gesagt, er habe 40 Jahre lang an dieser Autobiografie geschrieben – ich glaube, das sollte man präzisieren. 40 Jahre lang nahm er immer wieder neue Anläufe, eine Autobiografie zu verfassen, und scheiterte jedesmal, jedenfalls in seiner eigenen Einschätzung. Und erst gegen Ende seines Lebens, nämlich 1904 beziehungsweise 1906 kam ihm dieser grandiose Einfall, seine Biografie, seine Autobiografie nicht zu schreiben, sondern zu diktieren. Und davon erhoffte er sich sozusagen eine größere Spontaneität, eine bessere Möglichkeit, assoziativ zu schreiben und gleichzeitig gegen jede Chronologie anzuschreiben. Wir hörten eben das Zitat: von der Wiege bis zur Bahre. Genau gegen dieses Konzept setzte er sich zur Wehr. Er wollte im Grunde eine Art Mischung aus Tagebuch, Nachrichten des Tages und Memoiren, sodass er gewissermaßen Kindheitserinnerungen, Anekdoten, aber auch politische Tagesereignisse kunterbunt aneinanderreihen konnte, sodass ein Bilderbogen entsteht, der sich jeder chronologischen Anordnung entzieht.
von Billerbeck: Das kennen wir ja eigentlich von uns selbst auch, dass man Ereignisse und Gedanken gleichwertig einschätzt, die andere vielleicht für klein oder groß halten. Und er setzt das offenbar alles nebeneinander.
Oeser: Genau. Das ist also eigentlich seine grundlegende Maxime: Alle Ereignisse sind gleich bedeutend, die kleinen wie die großen. Und außerdem geht er davon aus, dass die Worte und die Handlungen eines Menschen in seinem Leben völlig nebensächlich sind, im Vergleich zu dem, was in seinem Kopf vor sich geht, nämlich die eigenen Gedanken und Gefühle. Er hat also die Hoffnung gehabt, und ich glaube, zu Recht, dass er auf diese Weise viel mehr und viel besser seine eigenen Gedanken und Gefühle zu Papier bringen lassen kann.
von Billerbeck: Nun gab es ja damals kein Diktiergerät. Wie hat er es gemacht?
Oeser: Er benutzte – oder er zog Stenografen und Stenografinnen zurate, insgesamt drei, glaube ich. Diese Diktate, die nahmen einen Zeitraum ein von etwa zweieinhalb Jahren, vom Januar 1906 bis zum Oktober 1909. Ein Jahr später starb er. Und das heißt wirklich, dass er jeden Tag morgens anfing, zu diktieren. Oft vom Bett aus.
von Billerbeck: Es gibt in dem Buch Kindheitserinnerungen an eine Zeit und eine Gegend, die jedem bekannt vorkommen, der seine beiden berühmtesten Bücher, seine beiden berühmtesten Figuren kennt, nämlich Tom Sawyer und Huckleberry Finn. Das ist die Erinnerung an die Farm seines Onkels John in den Südstaaten. Und er schildert darin eine ganze Reihe von Genüssen, Broten, Früchten, alles aus dem Garten. Und dieser Garten mit einem Zaun, ein Lattenzaun auf drei Seiten und hinten ein Palisadenzaun. Da klingelte es bei mir natürlich, weil beim Stichwort Zaun fällt natürlich jedem die Geschichte ein aus Mark Twains Tom Sawyer, wie er quasi die Aufgabe, den Zaun streichen zu müssen, als pure kapitalistische Nummer verkauft. Jeder muss dafür zahlen, streichen zu müssen. Welche Rolle spielen diese beiden Figuren, die ihn so berühmt gemacht haben, für diese Autobiografie?
Oeser: Na ja, er verwendet im Grunde für seine Romane immer wieder Vorfälle aus der eigenen Kindheit. Schon die Angelegenheit mit dem Lattenzaun. Er erwähnt das auch in der Autobiografie, genauso wie er erwähnt, welche Figuren aus seinem wirklichen Leben er für seine Romane verwendet. Die Mutter taucht als Figur so und so wieder auf, der Onkel als Figur so und so, der Schwarze, der Stadtstreicher und so weiter. Alle finden Eingang in seine Romanwelt. Und er reflektiert auch im Laufe dieser Autobiografie immer wieder darüber, wie sich denn Fakt und Fiktion zueinander verhalten, wie sich Autobiografie und Roman zueinander verhalten. Und ich glaube, man kann davon ausgehen, dass diese Mississippi-Romane ebenso autobiografisch sind, wie seine Autobiografie durchaus auch etwas Fiktionales hat.
von Billerbeck: Mark Twains geheime Autobiografie ist jetzt auf Deutsch zu haben. Ein wunderbares Buch und eines, glaube ich, das man auf die einsame Insel mitnehmen sollte, wenn denn da nur ein Buch erlaubt wäre. Hans-Christian Oeser, der Übersetzer ins Deutsche, ist mein Gast. Twain war aber nicht bloß ein ironischer Schreiber, ein begnadeter Schreiber und Redner, er war auch ein politischer Mensch. Und da tauchen auch in diesem Buch Ereignisse auf, die heute wahrscheinlich kaum noch jemand in Erinnerung hat, die er aber genau so schildert wie alles andere in seinem Leben. Was erfährt man daraus über ihn?
Oeser: Ja, wie Sie sagen, man erfährt daraus, dass er, obwohl er ja den besseren Gesellschaftskreisen angehörte, ein kritischer Geist war. Und ein Zeitzeuge, der die innen- und außenpolitischen Vorfälle durchaus aufs Korn nimmt. Also ich könnte mir vorstellen, dass er heute sich zum Beispiel den Empörten anschließen würde. Er nimmt aufs Korn die religiöse Heuchelei, die Philosophie der Selbstbereicherung, die imperialistischen Machenschaften der USA in verschiedenen Ländern der Erde. Und immer mit einer unglaublichen Schärfe im Ton. Er ist also durchaus auch Moralist. Nicht, dass er die kapitalistische Gesellschaftsordnung von Grund auf infrage stellte, aber er erbitterte sich über die Ära unglaublicher Fäulnis, so nennt er es, nach dem Ende des amerikanischen Bürgerkrieges, wo die Finanzhaie die amerikanische Gesellschaft mit einem Pesthauch dieser Selbstbereicherung überzogen.
von Billerbeck: Das kommt uns bekannt vor.
Oeser: Ich wollte gerade sagen. Viele dieser Passagen sind so aktuell angesichts der heutigen sogenannten Finanz-, Schulden-, Immobilien-, Bankenkrise, ich glaube, er würde sich selbst wiedererkennen in der heutigen Zeit. Es hat sich ja auch, wie wir wissen, gesellschaftspolitisch in den letzten 100 Jahren nicht allzu viel geändert.
von Billerbeck: Das sagt der Übersetzer Mark Twains. Es gab ein Ereignis im Leben Mark Twains, das ihn unglaublich erschüttert hat, das den Ironiker, glaube ich, an die Grenzen gebracht hat. Das war also der Tod seiner Tochter Susy, die erst 24 Jahre alt war und an Meningitis gestorben ist. Wie erfasst so ein Mann so einen Schicksalsschlag.
Oeser: Also das war ein sehr, sehr schwerer Schicksalsschlag und beileibe nicht der einzige. Also man muss dazu sagen, vor ihm starben drei seiner vier Kinder und seine Frau, nur seine Tochter Clara überlebte ihn und wurde dann auch später seine Nachlassverwalterin. Die Szene, wie er die Nachricht von der Erkrankung und dann vom Tod seiner Tochter Susy beschreibt, ist ungeheuer anrührend, vor allen Dingen auch deswegen, weil Susy selber seine erste Biografin war. Im Alter von 13 Jahren schrieb sie eine Biografie ihres Vaters, in der er sich natürlich wiedererkannte, und zwar voller Stolz, weil sie ihn bewundernd schilderte. Aber es ist schon richtig, was Sie sagen, dass er angesichts solcher Schicksalsschläge sich doch auch entpuppt als ein Pessimist fast, möchte man sagen, im Geiste Arthur Schopenhauers, den er offenbar auch gelesen hat. Er stellt Reflexionen an über den Sinn des Lebens überhaupt. Über die Myriaden von Menschen, die sich abrackern für nichts und wieder nichts, und keinerlei Spuren auf dieser Erde hinterlassen. Und so ein Tod wie der seiner Tochter bestärkt ihn natürlich in einer solchen pessimistischen Grundhaltung.
Wie man überhaupt sagen kann, er hatte Äußerungen von sich gegeben wie die von der verdammten menschlichen Rasse, der er manchmal keine guten Seiten abgewinnen konnte.
von Billerbeck: Ein Satz, der soll zum Schluss stehen, und der ist natürlich von Mark Twain. Der lautet: „Die Nachricht über meinen Tod war übertrieben.“ Das ist wieder so ein typischer Tonfall. Und wenn man das Buch liest, dann muss man ihm recht geben. Er lebt bis heute, und dieser erste Band der geheimen Autobiografie Mark Twains, der jetzt auf Deutsch erschienen ist, der dürfte das bestätigen.
Oeser: Ich glaube auch. Also 100 Jahre nach seinem Tod liest man jetzt dieses Buch und fühlt sich ihm ganz nahe. Gerade deswegen, weil er eben Einblick in seine intimsten Gedanken gibt. Ein kleines Beispiel noch. Sein Sohn Langden starb mit zwei Jahren, er fühlte sich schuldig an seinem Tod und gibt es zum ersten Mal in dieser Autobiografie zu und sagt auch, dass er nie jemandem, auch seiner Frau nicht, davon erzählt hatte, dass er seinen Sohn offenbar während einer Kutschenfahrt in größter Kälte vernachlässigt hatte. Man fühlt sich ihm sehr, sehr nahe. Und zwar eben als politischer Zeitgenosse wie auch als Mensch und auch als Autor. Man sieht, wie er arbeitet, was seine literarischen Strategien sind. Aber vor allen Dingen, dass er in der Lage ist, eben über die Knöpfe des Menschen hinauszugehen und zum Menschen selbst zu kommen.
von Billerbeck: Hans-Christian Oeser war das, der Mark Twains geheime Autobiografie aus dem amerikanischen Englisch ins Deutsche übertragen hat. Erschienen ist dessen erster Band im Aufbau-Verlag. Mehr darüber dann um halb vier, wenn sich unser Kritiker Paul Stenner Mark Twains Autobiografie vornimmt.
(Deutschlandfunk Kultur, 1. Oktober 2012)