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Hans-Martin Koch
Es schwirrt der Kopf
Karl-Heinz Ott entführt im Heine-Haus in eine „Geschichte des reaktionären Denkens“
Es ist schon gut, wenn der geneigte Leser Luther, Descartes und Hobbes einsortieren kann, seinen Heidegger und seinen Foucault ebenfalls, und wenn ihm idealerweise Leo Strauss und Carl Schmitt schon rnal untergekommen sind. Alles Männer, das nebenbei. Es kornmen noch einige hinzu wie Aristoteles, Platon, Rousseau, Hegel, Lukács und Benjamin in Karl-Heinz Otts aktuellem Buch „Verfluchte Neuzeit. Eine Geschichte des reaktionären Denkens“. Dass aber auch der interessierte Dilettant dieses überbordende Buch mit Gewinn lesen kann und vielleicht sollte, machten Ott und Moderator Hans-Christian Oeser im Heinrich-Heine-Haus deutlich.
Die kleinteilig portionierte Form
Karl-Heinz Ott, geboren 1957, ist Philosoph, Musikwissenschafter und Autor. Er arbeitete am und fürs Theater, schreibt Romane, Essays, Hörstücke und mehr. Er ist eloquent, ein sprühender Geist, ein brillanter Stilist, und wenn er im Gesprich mit Oeser so geistreich wie pointiert loslegt, scheint er die Flüge seiner Gedanken noch überholen zu wollen –Tempolimit, nein danke.
Otts Buch liefert in kleinteilig portionierter Form einen spannenden Beitrag über die intellektuelle Unterfütterung reehter und rechtsradikaler populistischer Strömungen. „Es schwirrt, es flirrt mir der Kopf“, sagt Moderator Oeser zu dem „Parforceritt durch Geistes- und Philosophiegeschichte“ und empfiehlt dennoch das Mitreiten.
Der Ott-Ritt startet mit dem Beginn der Neuzeit, also irgendwo bei der Entdeckung Amerikas und Luthers 1517 auf den Weg gebrachter Reformation und weiter mit der Aufklärung. Grob vergröbert gesagt, bestimmt in der westlichen Welt seither immer dominanter das Subjekt, das alles in Frage stellt, die Lebensrealität. Das führt einerseits zu demokratisch austarierten Strukturen, bleibt aber nicht gefeit vor Problemen. Ott skizziert: Das, was unter Freiheit firmiert, zersplittert, negativ betrachtet, immer weiter ins Individualistische mit einem Verlust der Gewissheiten bis hin zur offeneren Definition der Geschlechter. Ein guter Boden für illiberale, reaktionäre Strömungen, die nicht mehr die Demokratie als beste aller Staatsformen ansehen – siehe Ungarn, Polen etc.
Die Welt jedenfalls wird immer komplexer, beängstigender. Daraus speist sich der Ruf nach Einfachheit, klaren Vorgaben, festen Ritualen und Führergestalten. Trumps Capitol-Sturmtruppe beruft sich zwar nicht auf reaktioäre intellektuelle Kritiker der Moderne. Aber es gab und gibt sie, wie Ott zeigt, schon lange und sie saßen und sitzen in Ministerien, Universitäten, Parteien etc. Was diese Denker der Gegenaufklärung eine, sei tiefe Skepsis gegenüber der Aufklärung und die Überzeugnng: Totaler Relativismus schade den Menschen. Das sieht die Linke nicht anders.
Über Firmament und Fundament
„Was die einen als Freiheit rühmen, verdammen die anderen als Sinnlosigkeit“, sagt Ott. Das Volk brauche Firmament und Fundament, die durch die Freiheit des Denkens verschwänden, so lautet laut Ott die Überzeugung der Radikalkritiker der Moderne. Wie stark sich reaktionäres Denken ausbreitet, zeigt aktuell die Frankreich-Wahl.
Karl-Heinz Ott vertieft diese Aspekte und viele mehr auf eigenwillige Art. Das Zitieren geht oft nahtlos in ein „Paraphrasieren“ der Thesen und Ideologien über. Die Trennschärfe muss der Lesende herstellen. Er bekommt auch nur sporadisch Hintergrund zu den zitierten Denkern geliefert – keine Lebensdaten …
„So, jetzt habe ich wieder ausgeholt“, sagt Ott nach einem seiner gedanklichen Rundflüge. So bietet der Abend und mehr noch das erstaunlicherweise nach strapazierendem Einstieg auch unterhaltsame Buch eine Fülle von lohnenden Diskussionsanreizen. Auch ohne verbindendes Wissen zu Adorno, Hölderlin, Kant, Marx, Nietzsche, um ein paar zu nennen, die an diesem nicht gut besuchten Literaturbüro-Abend der Reihe „Was uns bewegt“ auch mal dran waren.
(Lüneburger Landeszeitung, 23. April 2022)