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presse - rezensionen

Patrick McCabe: Der Schlächterbursche. Roman. Aus dem Englischen von Hans-Christian Oeser. Hamburg: Rotbuch, 1995.

 


"Der Schlächterbursche" wird durch seine sprachliche Verve und Vielschichtigkeit zum Meisterwerk, und das gilt auch für die vorzügliche deutsche Fassung von Hans-Christian Oeser, dem man zu seiner übersetzerischen Bravourleistung nur gratulieren kann.


(Friedhelm Rathjen, Die grüne Tinte. Kleiner Leitfaden durch die irische Literatur, Scheeßel: Edition Rejoyce, 2004)



Vor mehr als tausend Jahren, so heisst es, war Irland das «Hellas des Nordens»; heute ist, rein statistisch gesprochen, nur ein Exilire ein richtiger Ire. Sein Schicksal scheint, lange vor «Ulysses», das des Odysseus. «Keiner, der etwas Selbstachtung hat, bleibt in Irland, sondern er flieht in die Ferne wie aus einem Land, das von einem zornigen Zeus heimgesucht wurde», sagte Joyce 1907. Was dies für die irische Literatur bedeutet, formulierte ein halbes Jahrhundert später Frank O'Connor, einer ihrer wichtigsten Vertreter: «Was dem irischen Roman den Boden nimmt, ist eben dies, dass der Roman die Beziehung des Individuums zur Gesellschaft thematisiert. Irland aber hat keine Gesellschaft, die das Individuum absorbieren könnte» “ und er zitiert einen amerikanischen Kritiker: «Jeder gute irische Roman endet mit einem Schiff, das nach England oder Amerika fährt.»

      Die Daheimgebliebenen führten “ in der Figur des outlaw oder underdog, als Provinzbewohner, Rebell oder verschrobener Einzelgänger “ ihr literarisches Dasein weniger im Roman als in der short story. Sie begründet bis heute den Ruhm vieler irischer Autoren, die sich erzählend mit Land und Landsleuten beschäftigen, hingegen die literarische Sprache kaum als Versuchsfeld betrachten. Ein irischer Roman, der in Irland spielt, die Perspektive «von unten» einnimmt und zugleich ein literarisches Experiment darstellt, ist unter diesen Vorgaben etwas Ungewöhnliches. Genau diese Voraussetzungen erfüllt aber das erste ins Deutsche übertragene Buch von Patrick McCabe: «The Butcher Boy».

      Der «Schlächterbursche» heisst Francie Brady und ist der Sohn eines Alkoholikers und einer Schwermütigen. Seine «Karriere» vom Ausreisser zum Heiminsassen, vom Schlächtergehilfen zum Mörder wird nachgezeichnet; die idiosynkratische und paranoide Wahrnehmung des Verwahrlosten, sein Hass und seine Wunschträume sind der eigentliche Gegenstand; blutiges Grausen und zarte Poesie gehen eine beunruhigende Synthese ein. Die namenlose irische Kleinstadt, aus der sich Francie zweimal auf eigene Faust, zweimal im Polizeiauto und ein letztesmal im Gefängniswagen herausbewegt, ist das literarische Äquivalent zu dem kleinen Ort an der nordirischen Grenze, in dem McCabe aufwuchs.

      Solche Mikrokosmen lehren zu beobachten und noch im Kleinsten Bedeutung zu entdecken. Grotesk wuchern dagegen die Blüten, welche die Sehnsucht nach der Aussenwelt treibt: Sie heissen «John Wayne», «Häuptling Schwebender Vogel», «Herr über die Zeit» oder einfach «Billionen Trillionen Dollar». Sie brechen durch die betonharte Provinzdecke und haben die grellen Farben von Comics. Unter der Decke aber führen sie ein Nachtschattendasein wie die Horrortraumgewächse des Filmregisseurs David Lynch, die in einer Reihenhaussiedlung in Kansas keimten.

      Patrick McCabe kennt dieses Milieu nicht nur von seiner ländlichen Herkunft. 1979, als er an seinem Lehrerexamen in Dublin arbeitete, gewann er den Hennessy Award für eine Kurzgeschichte. 1986 und 1989 entstanden Romane - nachts, nach der Arbeit; und so schrieb er auch den «Butcher Boy», während er in London lernbehinderte Schüler unterrichtete. Doch auch die eifrigste, sachkundigste Introspektion macht noch keinen guten Text. Dass die Identifikation mit dem «armen Schwein» in Sozialkitsch und klobige Leidenslyrik münden kann, ist z. B. an Ludwig Fels' Roman «Ein Unding der Liebe» (1981) zu studieren. Hier verrät schon der sprechende Name des obdachlosen Trinkers Georg Bleistein allzu deutlich die Absicht, in der Figur des Erniedrigten und Beleidigten das Wirtstier für den eigenen (männlichen) Weltschmerz zu schaffen.

      Von solcher Schreibweise unterscheidet sich die vorliegende nicht nur, weil der Ire Präzision mit lakonischem Humor verbindet und sprachlich behäbigen Tiefsinn vermeidet. Er hatte vielmehr den Mut, die auktoriale Perspektive des allwissenden Erzählers aufzugeben und sich auf Francies Stimme einzulassen - und dies führt, nur scheinbar paradox, zu einer rasenden, packenden Vielstimmigkeit, in der sich die aktuellen, die erinnerten, die unmittelbar empfundenen und halluzinierten Gegenwarten überlagern und einander antworten. Die Beschränkung aufs Ich erreicht das Gegenteil der auftrumpfenden Innerlichkeit deutscher Bekenntnisliteratur, denn hier spricht ein Ich; es ist das Flussbett des Sprachstroms, ein Artikulations- und nicht ein Interpretationsinstrument. Im Leben, im Sprechen und im Denken ist der underdog jemand, der keinen Abstand zu sich selbst gewinnt. Darin liegt die grosse Chance der gesprochenen Sprache, in der sich Francies Welt entfaltet:

      Die schwarze Strasse hat sich durch die hügelige Landschaft gewunden wie ein Band. Am Ende würde Joes Schule stehen, und was würde er sagen: Meine Fresse, Francie, das hast du wieder mal astrein hingekriegt! He, Joe! würd ich schreien. Aufgesattelt! Wir reiten los! Hüah! . . . und wie ich das gedacht hab, hab ich einen solchen Luftsprung vollführt, ich hätte mit dem Mond Kopfball spielen können. Francie Brady spielt für die Stadt, noch vierzig Meter, noch dreissig Meter, noch zwanzig, noch zehn Meter - ein Weitschuss, und der Torwart greift dauernd daneben und - Tooooor! - Francie Brady hat für die Stadt ein Tor erzielt, Francie hat ein Tor geschossen, der Mond hängt im Netz!

      Die Umgangssprache ist die differenzierteste, vielleicht künstlerischste Sprache: nah an Dingen und Empfindungen, reflektiert und kommentiert sie sich zugleich selbst. Den kurzen, gedrängten, atemlosen Klang, den sie im Englischen trägt, konnte Hans-Christian Oeser nicht übertragen, doch die Metaphorik des Slangs, das spezifische Gewicht der Ironie hat er auf eine Weise wiedergegeben, die auch den deutschen Leser in den Sog von Francies Selbstvergewisserung zieht, aus dem man, wie eine irische Rezension vermerkt, immer wieder luftschnappend auftaucht. Über seine Entscheidung, die Erzählzeit ins Perfekt zu setzen, mag man sich streiten; immerhin imitiert es nicht nur die abgehackte Klangwirkung, sondern auch die Unmittelbarkeit der Erzählhaltung.

      Francies Stimme vermittelt die psychische Logik der Handlung vollkommen unverkrampft. Glasklar und ohne jede pädagogische Vergrösserung legen die literarischen Motive die Sicht auf die inneren Motivierungen frei, darin an die Alltagsimpressionen der Joyceschen «Dubliner» erinnernd, die in ihrer Leichtigkeit die Schwere der Existenz aufwirbeln. McCabe hat sie zu seinem Vorbild erklärt - in der gebotenen Bescheidenheit. Denn es ist die Haltung, die er dem Werk seines grossen Landsmannes entleiht: «Der reine Hunger in allem, was Joyce geschrieben hat, dies Zum-Licht-Hinstreben, das einen der Aufgabe des Schreibens treu bleiben lässt.»


(Dorothea Dieckmann, Neue Zürcher Zeitung, 10. Mai 1995)
 

Die Bücher (Die Asche meiner Mutter [von Frank McCourt] und Der Schlächterbursche) ähneln sich auch hinsichtlich ihrer Sprache. McCabe erzählt äußerst anschaulich, schafft äußerst glaubwürdige, kraftvolle Figuren. Aber er gibt dem Leser nicht das Gefühl, daß aus vielen Jahren Abstand die Vergangenheit etwas positiver dargestellt wird, als sie war. Wurde oben Harry Rowohlt erwähnt, so muß nun hier die Übersetzung von Hans-Christian Oeser gelobt werden, die ebenfalls sehr gelungen ist ...


(info.bamberg.de, eine Initiative des Bürgernetzvereins Bamberg)



Patrick McCabe, 40, ein hochbegabter irischer Poet, hat diese bizarre, gewaltgeladene Kleinstadt-Saga ersonnen, nuancenreich in ihren rüdesten wie zartesten Momenten ist sie von Hans-Christian Oeser ins Deutsche übersetzt worden.


(Der Spiegel, 5. Juni 1995)

Und dann die Sprache, die der irische Autor und sein Übersetzer H.-C. Oeser für Francies Monolog gefunden hat: In der Diktion scheinbar freie Rede ist sie metaphernreich, ohne irgendeinen Slang oder Dialekt zu bemühen.

(Ulrich Karger, Büchernachlese)

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