lob- und dankreden
Hans-Christian Oeser
Rejoice!
Laudatio auf den Preisträger des Paul-Celan-Preises 2013
Friedhelm Rathjen
Lieber Friedhelm Rathjen, liebe Mitglieder der Jury und des Deutschen Literaturfonds, liebe Kolleginnen und Kollegen, meine sehr verehrten Damen und Herren!
Das Motto, unter dem der heutige Abend stehen könnte, hat uns der diesjährige Preisträger mit dem doppelsinnigen Namen seines 2004 gegründeten Eigenverlags Edition ReJoyce selbst an die Hand gegeben. Rejoice, das will sagen: Jauchzet, frohlocket. Re Joyce, das will sagen: alles, was James Joyce betrifft. Und tatsächlich heißt das Zentralgestirn am literarischen Firmament Friedhelm Rathjens zweifellos James Augustine Aloysius Joyce – allein zu diesem einen irischen Jahrhundertautor zähle ich in Rathjens umfänglicher Publikationsliste vierzehn Buchveröffentlichungen einschließlich einer rororo-Monographie sowie sechs Buchübersetzungen.
Wäre James Joyce ein Gott, er würde keine anderen Götter neben sich dulden. Doch Rathjen ist so frei, auch andere Hausgötter zu verehren. Da ist etwa Joyces Adlatus und Antipode Samuel Beckett, vertreten mit neun Buchtiteln, darunter ein wunderbarer Essay über das Fahrrad, „ein treffliches leichtes Gerät mit Holzfelgen und roten Reifen“ und wiederum eine rororo-Monographie über Leben, Werk und Wirkung. Und es finden sich bei Rathjen noch andere große Namen der Weltliteratur wie Robert Louis Stevenson, Herman Melville, Mark Twain oder Henry James, Namen, mit denen sich die Weite seines geistigen und literarischen Horizonts abstecken läßt, eines Horizonts, der in diametralem Gegensatz zu dem engen geographischen Radius seiner niedersächsischen Herkunftsregion und seiner neuen nordfriesischen Wahlheimat steht. „Handreichungen und Fußnoten zur Weltliteratur”, so ein weiterer Buchtitel, sind denn auch das Hauptgeschäft des Essayisten Friedhelm Rathjen.
Vermutlich ist es ihm, dem 1958 in Westerholz im niedersächsischen Scheeßel Geborenen, nicht an der Wiege gesungen worden, daß er in die große, weite Welt hinausziehen würde, nach Münster, zu einem sechsjährigen Studium der Publizistik, Germanistik und Anglistik, daß er sich bereits mit fünfundzwanzig Jahren erfolgreich als Literaturkritiker und wenig später als profilierter Literaturwissenschaftler betätigen würde, vielleicht auch nicht, daß er nach Scheeßel zurückkehren oder sich, wie vor wenigen Jahren geschehen, in Emmelsbüll-Horsbüll niederlassen würde, Orte, die ihre Kleinheit schon im Namen tragen. In den Augen mancher mögen sie tiefste Provinz sein, doch sie waren und sind das Zentrum einer unermüdlichen und erstaunlich mannigfaltigen Tätigkeit im Dienste der Literatur. Vor dem Eintreffen des Verlegers Carl Gottlob Beck porträtierte Wilhelm Ludwig Wekhrlin die Stadt Nördlingen folgendermaßen: „25 Leser, 1 Schreiber und 2 Denker machen die Republik der Vernunft aus.“ Wird man eines Tages über Emmelsbüll-Horsbüll lesen können: „1 Leser, 1 Schreiber, 1 Denker, 1 Übersetzer, 1 Selbstverleger – all diese jedoch in Personalunion – machten das Königreich der Imagination in der Gemeinde aus“?
Selten hat es einen so vielseitigen, mit Jean Paul möchte man sagen: allkräftigen, Literaturübersetzer gegeben wie Friedhelm Rathjen, der, anders als wir Feld-, Wald- und Wiesenübersetzer, auch als Lyriker, Prosaautor, Reiseschriftsteller, Biograph, Herausgeber, Rezensent und eben als Verleger hervorgetreten ist und sich als Deuter, Mittler, Brückenbauer große Verdienste um die englischsprachige, namentlich die irische und die amerikanische Literatur erworben hat. Aber wie sollte es anders sein? Wer im Ortsteil Südwesthörn vor die Haustür tritt, hat, von der unbedeutenden Insel Sylt einmal abgesehen, einen unverstellten Blick auf England. Gleich dahinter kommt Irland, next stop Manhattan!
Rathjens ungeteilte und ungebrochene Zuneigung gilt der Grünen Insel, die er viele Male bereist, nein: erradelt hat – recherchierend, reflektierend, räsonnierend, rezensierend. Dutzende und Aberdutzende irischer Autoren: Vorgänger, Zeitgenossen, Nachfahren von James Joyce, hat er besprochen oder porträtiert. Doch zu all diesem Fremden gibt es ein einheimisches Gegengewicht, einen Dichter, der in der Abgeschiedenheit der Heide lebte, ohne deswegen Heidedichter zu sein: Arno Schmidt, ein weiteres wirkmächtiges Vorbild, dem Rathjen einen Großteil seiner publizistischen Energie gewidmet hat und dem er überdies seit 2009 als Herausgeber des Bargfelder Boten verbunden ist. Zwischen der amerikanischen und irischen Literatur und dem Werk Arno Schmidts konnte er zahlreiche Verbindungslinien ziehen, und es ist anzunehmen, daß die intensive Beschäftigung mit Arno Schmidt als Schriftsteller wie auch als Übersetzer Spuren in seinem eigenen übersetzerischen Schaffen hinterlassen hat.
Um die übersetzerische Leistung Friedhelm Rathjens angemessen würdigen zu können, muß ich etwas weiter ausholen. Jede Disziplin hat ihren Streit, einen Streit, der die Fronten abstecken, den Blick auf den Gegenstand schärfen und das eigene Selbstbild bestimmen hilft. Die Historiker trugen 1986/87 ein gutes Jahr lang die Habermas-Kontroverse aus. Die Übersetzer kreuzten gleich zweimal die Klingen: 1992/93 in der Debatte um Hanswilhelm Haefs Übersetzung des Romans Lemprières Wörterbuch von Lawrence Norfolk, ausgelöst von einem vielerorts als unsolidarisch empfundenen Offenen Brief von elf seiner Kollegen, und 2001 im öffentlichen Eklat um die konkurrierenden Neuübersetzungen des amerikanischen Klassikers Moby Dick durch Matthias Jendis und Friedhelm Rathjen. Für einen als unsichtbar geltenden Berufsstand schlugen beide Debatten vergleichsweise hohe Wellen. Rathjen wurde Sperrigkeit, Affektiertheit, Manieriertheit, sturer Genauigkeitswahn und ein „sklavisches Kleben am Original“ vorgeworfen; er seinerseits rechtfertigte sein Vorgehen mit dem Verweis auf die stilistische Brüchigkeit des Originals und attackierte die vorherrschende Tendenz zur Zähmung eines widerspenstigen Ausgangstextes, den unzulässigen Hang zur stilistischen Glättung, den mangelnden Mut zur Originalität. Es war der klassische Konflikt zwischen jenen beiden Strategien, die Friedrich Schleiermacher als Hinübersetzen und als Herübersetzen definierte, Strategien, die uns auch als verfremdendes und als einbürgerndes Übersetzen bekannt sind.
Ich will an dieser Stelle weder für das eine noch für das andere Lager Partei ergreifen, weder für Friedhelm Rathjens radikales Wörtlichkeitsethos, seinen – wenn ich so sagen darf – translatorischen Fundamentalismus, noch für das Ideal einer gefälligen Lesbarkeit, bei der jeder Satz sorgsam geplättet, gebügelt und gefaltet wird, bis er den Anforderungen einer hyperkorrekten übersetzerischen Einheitssprache genügt. Vielmehr möchte ich Ihre Aufmerksamkeit darauf lenken, daß die mit aller Heftigkeit geführte Debatte eine klärende Wirkung hatte. Unzweifelhaft trug sie dazu bei, das Bewußtsein sowohl der professionellen Literaturübersetzer wie das eines breiteren literarisch interessierten Publikums für zwei grundlegende und im Grunde genommen selbstevidente Wahrheiten zu schärfen: daß, wer eine Übersetzung liest, niemals das Original liest und daß, wer eine Übersetzung anfertigt, sie niemals im Verhältnis eins zu eins anfertigen kann – zwei gewichtige Einwände gegen die vorgebliche Selbstidentität von Original und Übersetzung.
Der Übersetzer ist eben kein Übersetzer, kein Ferge, der den reich beladenen Nachen sicher über den Fluss steuert und seine literarische Fracht unversehrt am anderen Ufer absetzt. Peter Huchel hatte dieses gängige Bild aufgesprengt, als er sein Gedicht „Thrakien“ mit den Zeilen beschloß: „Das Wort / ist die Fähre.“ Wie fast alle Metaphern für den hochkomplexen Vorgang des Übersetzens ist auch die vom Übersetzer als Fährmann ungenau und unzutreffend. Eher noch läßt sich dem Wortsinn des griechischen Verbs metaphorein zufolge das Übersetzen selbst als Metapher deklarieren. Das Bild eines gehobenen Botendienstes jedenfalls trifft den Kern der Sache nicht. Sollte der Übersetzer gar ein Charon sein, der gegen einen bekanntermaßen geringen Obolus tote Gegenstände über den Acheron zum Eingang des Hades befördert?
Schon Walter Benjamin sprach demgegenüber vom „Fortleben“ und von der „Nachreife“ des Originals, eines ewig Unabgeschlossenen und Unausschöpflichen, in seinen jeweiligen Übersetzungen. Jeder Transfer über Sprachgrenzen hinweg bedeutet eine gründliche Transformation, eine Metamorphose, um nicht zu sagen: eine Metempsychose des Ursprungstextes, nach welcher das Original in der Übersetzung ebenso anwesend wie abwesend ist.
Der Literaturkritiker Burkhard Müller hat diesen nachgerade mystischen Sachverhalt präzise benannt: „Das Paradox, daß das Werk eine Einheit darstellt, seine Bedeutung aber eine vielfache sein muß, erlangt sichtbare Gestalt erst dort, wo die Übersetzung sich seiner annimmt. Die Übersetzung löst sich vom manifesten Leib des Textes wie die Seele vom sterbenden Körper und flattert in nervösen Gesten um ihn herum; erst jetzt wird sie, die sich bisher im Körper versteckt hielt, als Seele eigentlich sichtbar.“
Übersetzungen sind stets Produkt und Resultat einer je eigenen Ausdeutung, einer je eigenen geistigen Anstrengung, einer je eigenen sprachlichen Schöpferkraft. Sie entspringen – und das hat die Debatte um Moby Dick mit aller Deutlichkeit vor Augen geführt – einer sei es bewußten, sei es unbewußten kulturellen Haltung, sozialen Konditionierung, politisch-ideologischen Motivation, einem intellektuellen Habitus, einem erworbenen Sprachgestus und einer ästhetischen Strategie, in die alle individuelle Lektüre-, Lebens- und Welterfahrung des übersetzenden Subjekts eingeflossen ist.
Demnach gilt, was Paul Celan, der Namenspatron dieses renommierten Preises, über den Dichter gesagt hat – nämlich daß er „immer nur ein unter dem besonderen Neigungswinkel seiner Existenz sprechendes Ich“ sei –, fraglos auch für den Übersetzer. Dieser prägt der Übersetzung, und dadurch mittelbar auch dem Original, den Stempel seines eigenen Ichs auf, er verschwindet nicht in seinem Werk wie, der chinesischen Legende zufolge, der Maler in seinem Bild, sondern hinterläßt seine unverkennbare Handschrift, seinen unverwechselbaren Fingerabdruck, gleichviel, ob er sich der akribischen Nachbildung von Syntax und Semantik oder einem eher freieren Umgang mit dem Original verpflichtet fühlt.
Ich polemisiere hier gegen eine Haltung, wie sie etwa der englische Übersetzer Daniel Hahn vertritt, wenn er schreibt: „What most professional translators aim to achieve: a story that’s identical to the original, only with all the words changed; with no visible interference by one’s own style.“ Eine solche Übersetzung – von Daniel Hahn preservation oder replication genannt – ist um keinen Preis der Welt zu haben. Wenn Daniel Hahn stylistic humility anmahnt, eine Position, die auch unter deutschen Übersetzern weit verbreitet ist, so gilt es, an den berühmten Ausspruch Buffons zu erinnern, der 1753 in seiner Antrittsrede in der französischen Akademie sagte: „Le style est l’homme même“ – der Stil eines Menschen, und folglich der eines Übersetzers, ist Abbild und Ausfluß seines Charakters. Und wenn den Gedichtübertragungen Paul Celans ein „Eigengewicht als Zeugnisse der lyrischen Formkraft Celans“ bescheinigt wird, so gilt dies mutatis mutandis für jede Übersetzung, nicht minder für die von Prosa. Mag auch das Betätigungsfeld des Übersetzers auf die Sprache beschränkt sein – Beobachtungsgabe, Erfindungskraft und die Fiktionalisierung von Erfahrenem, Erlebtem oder Erforschtem entfallen bei einem literarischen Derivat wie einer Übersetzung natürlich –, so gilt doch seine originale Formkraft dem wesentlichen: dem sprachlichen Aspekt des sprachlichen Kunstwerks. Um abermals Paul Celan zu zitieren: „Dichtung – das ist das schicksalhaft Einmalige der Sprache.“
Nur aus diesem Grund konnte Walter Benjamin in seinem metaphysisch motivierten Essay über „Die Aufgabe des Übersetzers“ die Übersetzung als eigenständiges literarisches Genre bestimmen: „So weit ist sie entfernt, von zwei erstorbenen Sprachen die taube Gleichung zu sein, daß gerade unter allen Formen ihr als Eigenstes es zufällt, auf jene Nachreife des fremden Wortes, auf die Wehen des eigenen zu merken.“
Und so sind sowohl der 2009 verstorbene Matthias Jendis, dem wir ein ehrendes Andenken bewahren, wie auch der heute abend ausgezeichnete Friedhelm Rathjen einem je eigenen Kompaß gefolgt. Von diesen beiden war Rathjen unbestreitbar derjenige mit dem größeren Eigensinn – ein Begriff, dem ich den negativen Beigeschmack nehmen möchte, denn mehr oder weniger stark ausgeprägt hat jeder Übersetzer Eigensinn. Oskar Negt und Alexander Kluge bestimmen Eigensinn als „starke Autonomie des Verhaltens“, als Protest gegen die „Enteignung der eigenen Sinne“. Rathjens Eigensinn bestand darin, die Eigentümlichkeiten des Originals bis ins Sinnliche hinein, bis in den Klang und den Rhythmus hinein nachbilden zu wollen. Vielleicht tat er der deutschen Sprache dabei auch weh, vielleicht waren dies die Wehen des eigenen Wortes.
So, wie das eigensinnige Kind im gleichnamigen Märchen der Brüder Grimm mit härtesten Strafen bedacht wird, glaube ich behaupten zu dürfen – doch ist dies nur eine Vermutung, für die ich keinerlei Beleg habe –, daß Rathjen in der Folgezeit mit einem Bannfluch belegt wurde. Es wäre ein Lehrbeispiel dafür, wie rasch der Literaturbetrieb hierzulande jemanden ausgrenzen kann, der in grundsätzlichen Fragen anderer Auffassung ist. Oder weshalb ist der Übersetzer Rathjen nach dem Erscheinen seines Moby Dick im Jahre 2004 sieben Jahre lang verstummt? Es dürfte auch kein Zufall sein, daß sich Rathjen im Augenblick der größten Anfeindungen auf seine Stärke als Publizist besann und jenen Selbstverlag ins Leben rief, der es ihm ermöglichte, seine zahlreichen Essays, Aufsätze, Artikel und Buchbesprechungen über den Tag hinaus zugänglich zu machen. So sammelte er seine „Leitfäden“ und „Erkundungen“ unter Titeln wie Die grüne Tinte, Dritte Wege, weder noch, Durch dick und dünn, Inselwärts oder Strandfunde.
Insofern ist es vielleicht auch ein Akt ausgleichender Gerechtigkeit, um nicht zu sagen: der Rehabilitierung, den diesjährigen Paul-Celan-Preis einem Mann zu verleihen, der unbeirrbar seinen Weg gegangen ist. Mit jeder seiner Übersetzungen schreibt er gegen die törichte Bemerkung eines Karl Kraus an, „daß der Beweis für ein Sprachwerk dessen Unübersetzbarkeit“ sei. Da ist es von unschätzbarem Vorteil, daß Friedhelm Rathjen seine berufliche Laufbahn als Literaturkritiker und -wissenschaftler begonnen und sie unter Ansammlung stupender Kenntnisse fortgeführt hat. So vereinigt er in sich stets den analysierenden Literaturwissenschaftler und den kreativen Sprachkünstler, ganz im Sinne Friedrich Rückerts, der jenen dem Übersetzungsgeschäft zwangsläufig innewohnenden Zwiespalt wie folgt beschrieb:
Wer Philolog und Poet ist in Einer Person, wie ich Armer,
Kann nichts besseres tun als übersetzen wie ich.
Wie Poesie und Philologie einander fördern
Und zu ergänzen vermag, hat mein Hariri gezeigt.
Wenn du nicht zu philologisch, nicht überpoetisch es
ansiehst,
Wird dich belehrend erfreun, Leser, das Zwittergebild.
Was philologisch gefehlt ist, vergibst du poetischer Freiheit.
Und die poetische Schuld schenkst du der Philologie.
Es ist das denkbar größte Paradox: Gehen wir von der Subjektivität jeder Interpretation, schon der des common reader, erst recht der des professionellen Übersetzers, aus, so hört das Original als fixe, unverrückbare Größe zu existieren auf, und doch erkennen wir es als einzige Autorität an und die Loyalität ihm gegenüber als das höchste Gebot. Jeder kritische Vergleich erweist, daß es bereits beim einfachsten Text, ja beim einfachsten Satz so viele Les- und Wiedergabearten gibt, wie es Übersetzer gibt. Damit ist dem Übersetzer kein Freibrief gegenüber dem Original ausgestellt, nur sollten wir endlich über die unbefriedigende Diskussion von Treue (im Sinne der Wortwörtlichkeit) und Freiheit (im Sinne der willentlichen Abweichung) hinausgelangen und die Dialektik von Freiheit und Notwendigkeit thematisieren. Eine Akzentuierung der unausweichlichen Subjektivität der übersetzerischen Leistung will keinem Bewertungsrelativismus, keiner Nivellierung das Wort reden. An Qualitätsunterschieden zwischen einzelnen Übersetzungen ist festzuhalten; es gibt Erkenntnisfortschritte, größere Exaktheit des Ausdrucks, größeres Gespür für intra- und intertextuelle Zusammenhänge oder auch nur eine größere handwerkliche Sorgfalt.
Dies mag die Übersetzung verdeutlichen, für die Friedhelm Rathjen außer für sein umfangreiches Gesamtwerk heute abend vorrangig ausgezeichnet wird: seine 2012 im Manesse Verlag erschienene Neuübersetzung des Romans Ein Porträt des Künstlers als junger Mann von James Joyce. In ihrer Begründung befand die Jury, Rathjen verfüge über ein „beeindruckendes sprachliches Register, zwischen kindlichem und erwachsenem Sprechen, zwischen Umgangssprache und gelehrtem Diskurs“; für die „Eigentümlichkeiten, vor allem aber für die unterschiedlichen Sprechweisen und Stilebenen in Joyce’ Roman“ habe er „überzeugende deutsche Lösungen gefunden“.
The proof of the pudding is in the eating, wie der Engländer sagt. Die Wahrheit ist immer konkret, wie Wladimir Iljitsch Lenin sagt. Die Quadratur des Kreises, der Balanceakt, die Gratwanderung, die jeder Übersetzer Wort für Wort, Satz für Satz und Absatz für Absatz zu bewerkstelligen hat, lässt sich einerseits nur anhand der unzähligen komplizierten Entscheidungen, der er bei jeder der genannten Texteinheiten trifft, andererseits nur anhand des Gesamttons, der den Gesamtttext durchzieht, beurteilen. Machen wir also die Probe aufs Exempel, auch wenn wir uns mit einer Mikroanalyse des Anfangssatzes begnügen müssen, des Toreingangs in einen Bildungsroman, der die Emanzipation des jungen Stephen Dedalus von der gesellschaftlichen Realität der britisch-römischen Doppeltyrannei Kolonialmacht und Kirchenmacht, seinen Weg zur Kunst und seinen Aufbruch ins Exil zum Gegenstand hat.
Bei James Joyce lautet dieser erste Satz: „Once upon a time and a very good time it was there was a moocow coming down along the road and this moocow that was coming down along the road met a nicens little boy named baby tuckoo ...“ Georg Goyert (1926) übersetzt diesen Satz folgendermaßen: „Vor vielen, vielen Jahren – war das eine herrliche Zeit – kam eine Muhkuh über die Straße, und die Muhkuh, die da so über die Straße kam, begegnete einem netten, kleinen Jungen, und der hieß Spätzchen ...“ Bei Klaus Reichert (1972) lesen wir: „Es war einmal vor langer Zeit und das war eine sehr gute Zeit da war eine Muhkuh die kam die Straße herunter gegangen und diese Muhkuh die da die Straße herunter gegangen kam die traf einen sönen tleinen Tnaben und der hieß Tuckuck-Baby …“ Bei unserem Preisträger wiederum heißt es: „Es war einmal zu einer Zeit und eine sehr gute Zeit war’s da kam eine Muhkuh die Straße entlang und diese Muhkuh die da die Straße entlangkam traf ein feinches kleinches Jungchen das hieß Baby Tuckuck ...“
Wie also lautet der Befund? Es zeigt sich, daß unerschütterliches Vertrauen ins Original und sorgfältigste Handhabung der eigenen Sprache eine Fassung ergeben, die präzise und klangvoll ist, aus einem Guß und nuanciert. Denn was uns am Original allererst auffällt, das sind der uns aus dem Märchen vertraute formelhafte Beginn, die Wiederholung des Wortes time und der Verlaufsform coming down along the road sowie drei offenbar der Babysprache entnommene Wörter, zwei davon Neuschöpfungen (moocow, nicens, baby tuckoo). Georg Goyert ersetzt das erste time durch Jahre, läßt die Kuh die Straße überqueren statt entlanggehen, unterschlägt den Neologismus nicens und benutzt für einen höchst ungewöhnlichen Eigennamen ein deutsches Allerweltskosewort, das geradezu wie ein anti-climax wirkt, von der falschen Intonation der Parenthese und der Interpunktion ganz zu schweigen. Klaus Reichert verwendet die unschöne Reihung „es war – das war – da war“, dehnt die Verblänge unnötig aus, führt drei gelispelte Wörter und ein Vokabular ein, das allzu sehr an Goethes „Erlkönig“ erinnert, und endet mit einem amerikanisch anmutenden „Tuckuck-Baby“. Immerhin ist der Anklang an Kuckuck gerettet. Friedhelm Rathjens Satz ist knapper, konziser, rhythmischer und wäre auch dann die bessere, die beste Übersetzung gewesen, wenn er es bei einem „feinen kleinen Jungen“ belassen hätte. Aber erst sein „feinches kleinches Jungchen“ ist der eigentliche Geniestreich, der sowohl James Joyce Gerechtigkeit widerfahren läßt als auch souverän mit den Möglichkeiten der deutschen Sprache spielt.
In einem Land, in dem mittlerweile nicht nur Lifestyle-, sondern Mindstyle-Magazine feilgeboten werden, tut ein Geist wie Friedhelm Rathjen – unabhängig, wach, belesen, gebildet, sprachmächtig – mehr als gut, er tut not. Wenn Goethe das Übersetzen als „eins der wichtigsten und würdigsten Geschäfte in dem allgemeinen Weltverkehr“ ansieht, so haben wir in Friedhelm Rathjen einen wichtigen und würdigen, ja einen preiswürdigen Vertreter dieser notwendigen Zunft. Lieber Friedhelm, verehrte Anwesende: Rejoice!
(gehalten am 10. Oktober 2013 in Frankfurt am Main)