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Hans-Christian Oeser
Leserbrief zu translatorischer Identitätspolitik
Schwarze übersetzen Schwarze, Frauen übersetzen Frauen, Schwule übersetzen Schwule? Nein. Literatur und Übersetzung leben von Nicht-Identität. Jede Literaturübersetzung ist die fremdes Wort gewordene Verkörperung von Nicht-Identität. Das Leben lebt von Nicht-Identität (und übrigens auch von Binarität). Ich – ein „alter weißer Mann“ (eine ageistische, rassistische und sexistische Bezeichnung, falls mit ihr der Versuch unternommen wird, mir die eine dreifaltige Identität aufzuzwingen) – habe in vier Jahrzehnten übersetzerischer Tätigkeit Dutzende von Autoren verschiedenster Prägung aus dem Englischen ins Deutsche gebracht: junge und alte, schwarze und weiße, weibliche und männliche, homosexuelle und heterosexuelle, jüdische und nichtjüdische. Alle waren verschieden voneinander, und alle waren verschieden von mir. Alle waren Nicht-Ich. Meine Übersetzungen waren ein freier geistiger Verkehr zwischen einem Ich und einem Du. Hingegen kommt jeder Versuch einer Eins-zu-eins-Entsprechung bei der Auswahl einer geeigneten Übersetzerin oder eines geeigneten Übersetzers (die professionelle Eignung steht auf einem anderen Blatt) einem lebensfremden und literaturfeindlichen Diktat gleich, das zum Scheitern verurteilt ist: Zu einem Individuum, das sich aus den vielfältigsten Identitäten zusammensetzt, gibt es keine Eins-zu-eins-Entsprechung. Das Original müsste für immer Original bleiben, es dürfte niemals Übersetzung werden, denn meine deutsche bzw. deutschprachige „Identität“, so wäre zu folgern, ist fundamental verschieden von einer amerikanischen „Identität“. Nach dieser Logik dürfte nur eine Amerikanerin eine Amerikanerin übersetzen: aus dem Englischen ins Englische. Und selbst der dabei entstehende Text würde anders ausfallen als das Original, da es sich um zwei verschiedene Individuen handelt. Mehr noch, das Original, das doch in der Lage sein sollte, alle gesetzten Grenzen kraft Phantasie, Imagination und Empathie zu überspringen oder zu sprengen, wäre gar nicht erst zustande gekommen. Dem identitätspolitischen Modell zufolge wäre dem Urheber oder der Urheberin des Originals jeder Ausblick über die eigene „Identität“ hinaus von vornherein verwehrt. Identitätspolitik, gerade auch im kulturellen Bereich, ist der Tod allen Sich-Hineinversetzens in das Andere, aller Einfühlung, allen Austausches und aller übergreifenden und verbindenden Humanität. Sie ist der Ausfluss eines philosophischen Essentialismus und führt gleichzeitig zu Atomisierung statt zu Individualisierung. Keine „junge schwarze amerikanische Frau“ dürfte es noch wagen, auch nur einen Satz über diesen „alten weißen deutschen Mann“ zu schreiben. Lasst uns über gute und schlechte Literatur und über gute und schlechte Übersetzungen streiten.
(Leicht gekürzte Fassung in Der Tagesspiegel, 15. März 2021)