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Hans-Christian Oeser
Zwei Leserbriefe an die Frankfurter Allgemeine Zeitung
zum Gaza-Krieg
Alexander Hanekes Leitartikel („Das Leid der Menschen in Gaza“, 2. Dezember 2023) ist an Zynismus nicht zu überbieten. Nicht Israel reißt die Menschen in den Tod; nein, Hamas will sie mit in den Tod reißen. Nicht Israel greift zivile Ziele, insbesondere Krankenhäuser, an; nein, Hamas macht sie zu legitimen militärischen Zielen. Nicht der Mörder, der Ermordete ist schuldig. Alexander Hanekes Resumé lautet: „Sobald der Krieg auch militärisch keinen Nutzen mehr bringt, lässt sich das Leid der Zivilbevölkerung nicht mehr rechtfertigen.“ Im Umkehrschluss bedeutet dies: „Solange der Krieg militärisch Nutzen bringt, lässt sich das Leid der Zivilbevölkerung rechtfertigen.“ Das Prinzip der Verhältnismäßigkeit der Mittel auch im Krieg scheint er nicht zu kennen.
In den vergangenen zwei Monaten sind im Gazastreifen mehr Zivilisten getötet worden als in dem nun schon mehr als anderthalb Jahren währenden russisch-ukrainischen Krieg, von den Verwundeten und Vermissten ganz zu schweigen. Es sind – nicht nur proportional, sondern in absoluten Zahlen – mehr Kinder, mehr UN-Mitarbeiter, mehr Journalisten, mehr Ärzte und Rettungskräfte getötet worden als in jedem anderen Krieg der jüngsten Vergangenheit. Der israelische Regierungssprecher hat die Prioritäten der israelischen Armee unlängst klar definiert: „Damage – not accuracy.“
Als Nichtjurist mache ich mich nicht anheischig, über die völkerrechtlichen Tatbestände Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder Völkermord zu befinden. Allerdings hat Luis Moreno Ocampo, ehemaliger Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofes, der über ebendiese juristische Kompetenz verfügt, unmissverständlich erklärt, dass allein die Belagerung und Abschnürung des Gazastreifens Völkermord konstituiere, nämlich die „vorsätzliche Auferlegung von Lebensbedingungen für die Gruppe, die geeignet sind, ihre körperliche Zerstörung ganz oder teilweise herbeizuführen“ (Übereinkommen über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes vom 9. Dezember 1948), von der Flächenbombardierung und Binnenvertreibung der Bevölkerung ganz abgesehen. Wer diesen Vorwurf in Deutschland als Demonstrant erhebt, muss damit rechnen, festgenommen zu werden; wer ihn in Artikeln oder auf Podien äußert oder auch nur zur Diskussion stellt, wird ausgeladen und mit dem Bannfluch belegt. Unter allerlei abstrusen Vorwänden wird der „Meinungskorridor“ in Deutschland immer enger.
Vertreter der israelischen Regierung haben eindeutig genozidale Absichten geäußert: „Die ganze Nation (Gazas) ist verantwortlich“, „Im Gazastreifen gibt es keine unschuldigen Zivilisten“, „Die Bewohner Gazas sind menschliche Tiere, und wir werden sie entsprechend behandeln“, „Wir werden die Bewohner des Gazastreifens in die Wüste treiben“, „Ihr müsst euch erinnern, was das Volk Amelek euch angetan hat (das Volk Amelek wurde ausgerottet!)“, „Gaza wird zu einem Ort werden, an dem kein Mensch mehr leben kann“, „Der Einsatz der Atombombe ist eine Option“, „Wir werden den Gazastreifen (nicht: Hamas!) auslöschen“. In seiner Ansprache vor der UN-Vollversammlung zwei Wochen vor dem Anschlag der Hamas zeigte Premierminister Natanjahu den Vertretern der Welt unter dem Beifall verbündeter Staaten eine Karte des Nahen Ostens, auf der nur noch ein Groß-Israel zu sehen war – kein Westjordanland, kein Gazastreifen. Palästina, in welcher staatlichen Verfasstheit auch immer, war ausgelöscht. Dies scheint das strategische Ziel zumindest der gegenwärtigen israelischen Regierung zu sein, auch wenn es sich weder militärisch noch politisch wird durchsetzen lassen.
Und ja, Antisemitismus muss zu allen Zeiten und unter allen Umständen bekämpft werden, zumal in Deutschland. Und ja, ich verurteile ohne Wenn und Aber die Tötung von Zivilisten durch Hamas am 7. Oktober 2023. Wobei nicht verschwiegen werden darf, dass von den insgesamt 1200 Israelis, die an diesem furchtbaren Tag getötet wurden (darunter mehr als 350 israelische Soldaten), Dutzende, wenn nicht Hunderte auf das Konto der israelischen Streitkräfte gehen, die aus ihren Hubschraubern den expliziten Befehl ausführten: „Auf alles schießen, was sich bewegt.“
(2. Dezember 2023, nicht veröffentlicht)
Unbeirrt von aller Realität vor Ort setzt die FAZ ihren Kurs bedingungsloser, fast möchte man sagen: besinnungsloser Solidarität mit Israel fort, konkret ihren Kurs der Solidarität mit einer rechtsextremen, von faschistoiden Elementen durchsetzten israelischen Regierung unter einem korrupten Premierminister. In seinem Leitartikel („Eine Illusion von Wirksamkeit“, 6. Januar 2024) stellt Mitherausgeber Jürgen Kaube die Meinung, „im Gazastreifen vollziehe sich soeben ein Genozid, Israel strebe die Auslöschung der Palästinenser an“, mit der Behauptung, „der Mond bestehe aus Gorgonzola“, auf eine Stufe. Nur „blinde“, „wirre“ und „dumme“ Intellektuelle, Künstler und Studenten, die eine „Nachfolgefigur für das Proletariat“ suchten und die Palästinenser zu einem „Ersatzproletariat“ stilisierten, könnten sich zu einer solchen Gesinnung der „Empörung“ versteigen.
„Das Unrecht, das den Palästinensern tatsächlich geschieht und an dem sie selbst beteiligt sind (sic!), gilt vielen Intellektuellen als exzeptionell (…).“ Umgekehrt wird ein Schuh daraus: Seit Jahrzehnten nimmt der Staat Israel einen „Exzeptionalismus“ für sich in Anspruch, der ihm gestattet, gegen jedes Völkerrecht und gegen alle einschlägigen UN-Resolutionen zu expandieren, zu okkupieren, zu annektieren und zu segregieren, ohne dass er mit internationalen Sanktionen zu rechnen hätte, dies mit zweifacher Begründung: Israel als Zuflucht von Holocaust-Überlebenden und verfolgten Menschen jüdischen Glaubens und Israel als einzige Demokratie im Nahen Osten.
Was sagen wir zu den vielen sei es ultraorthodoxen, sei es säkularen und liberalen Jüdinnen und Juden in aller Welt, aber auch in Deutschland, die angesichts der von UN- und anderen Hilfsorganisationen vielfach dokumentierten israelischen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit fast täglich auf die Straße gehen? Handelt es sich um jüdischen Selbsthass, wie es ihnen vonseiten der israelischen Regierung flugs bescheinigt wird? Oder haben sich diese Individuen und Gruppen mit ihren Parolen „Nie wieder“ und „Nicht in unserem Namen“ ein Moral-, Rechts- und Geschichtsbewusstsein bewahrt, das den meisten Politikern und politischen Kommentatoren in Deutschland trotz der mittlerweile fast 23 000 Todesopfer, der umfassenden Zerstörung des Gazastreifens und der nahezu vollständigen Binnenvertreibung seiner Bevölkerung abzugehen scheint?
Was sagen wir zu den israelischen Akademikern und Menschenrechtlern, die die Generalstaatsanwaltschaft Israels in einem mit zahllosen Beispielen versehenen Schreiben auffordern, energisch gegen die öffentlichen Aufrufe zu Völkermord und ethnischen Säuberungen im Gazastreifen vorzugehen, die immer öfter von Regierungsmitgliedern, Knessetabgeordneten und führenden Armeeangehörigen zu hören und zu lesen sind? Benötigten sie für ihre aufrechte Haltung und für ihr verantwortungsvolles politisches Handeln ein palästinensisches „Ersatzproletariat“?
Hat Jürgen Kaube die Klageschrift der Republik Südafrika studiert, die dem Internationalen Gerichtshof vorliegt und die auf 83 Seiten sowohl die genozidalen Akte also auch die genozidalen Absichten Israels minutiös bis ins kleinste Detail belegt? Auch hier reagierte Premierminister Netanjahu sofort mit dem einzig zündenden Argument: „Antisemitismus.“ Verbrechen der einen Seite, die Gräueltaten der Hamas am 7. Oktober 2023, rechtfertigen nicht die Verbrechen der anderen Seite, erst recht dann nicht, wenn diese einem strategischen Kalkül folgen: der Unbewohnbarmachung des Gazastreifens zur endgültigen Verhinderung eines palästinensischen Staates, „den es nie geben wird“ (Netanjahu).
(6. Januar 2024, nicht veröffentlicht)