Helmut Heidenreich
Schonungslos, wortgewaltig, ergreifend
Hans-Christian Oeser gewährt Einblick in seine Übersetzung von Sebastian Barrys Roman „A Long Long Way“
GELNHAUSEN (hei). „Er wurde geboren, als das Jahr starb“: Willie Dunne, ein Junge aus Dublin, wurde, ohne wirklich zu begreifen, was geschah, schon sehr früh in seinem Leben nicht nur in die Tragödie des Ersten Weltkrieges hineingezogen, sondern auch in die Freiheitsbestrebungen Irlands, weg von der englischen Hegemonialmacht. Dunne ist die Hauptfigur des Romans „Ein langer, langer Weg“ (A Long Long Way) von Sebastian Barry, ins Deutsche übersetzt von Hans-Christian Oeser. Der Übersetzer las jetzt im Romanischen Haus in Gelnhausen aus seiner Übersetzung vor, eingeladen hatte die Brentano Buchhandlung.
„Wenn Oeser im Kaisersaal liest, ist Buchmesse“, eröffnete Tobias Gros die Veranstaltung und nahm dabei Bezug auf den mittlerweile dritten Auftritt Oesers in jährlicher Folge in Gelnhausen. Dieser hatte wieder ganz besondere Literatur im Gepäck. „Schonungslos, wortgewaltig und ergreifend“, mit diesen Worten charakterisierte Oeser die Handlung und den Sprachstil des Romans und gab den Zuhörern eine erläuternde Zusammenfassung des Geschehens: Willie Dunne, Sohn eines irischen Polizisten in Dublin, wächst auf in einer Zeit, die geprägt ist von Unruhe und Veränderung. Da ist zum einen der Erste Weltkrieg, der seine Schatten vorauswirft, aber auch das irische Aufbegehren gegen die englische Herrschaft. Er wird gewahr, wie sein Vater als leitender Polizist gegen Demonstranten in Dublin vorgeht, die gegen die Aussperrungen protestieren, erlebt ungeachtet aller großen Ereignisse seine große und einzige Liebe zu Gretta und meldet sich freiwillig als Soldat für einen Einsatz im ausbrechenden Ersten Weltkrieg. Von Gretta befragt, warum er sich gemeldet habe, antwortet Willie, er müsse gehen, weil er sie liebe. Denn er habe gehört, in Belgien gäbe es Frauen wie sie, die von Deutschen umgebracht werden. Wie könne er das zulassen. Alles wird geschildert in einer „bildergesättigten und explosiven Sprache“, wie Oeser einführend erläuterte.
„Barry setzt dabei die Menschlichkeit seiner Figuren den Schrecken der Geschichte und des Krieges gegenüber.“ Ein Schrecken, der unfassbar ist. „40 Krieg führende Nationen, 70 Millionen Soldaten, bis zu 20 Millionen Tote und ein Frontverlauf, der nach 50 Monaten in etwa derselbe ist, wie zu Beginn des Krieges“, nannte Oeser einige Zahlen und stellte die Frage: „Wie lässt sich so etwas darstellen?“
Das Buch eröffnet eine Szenerie, in die sich der Leser ohne Mühe hineinfinden und hineinfühlen kann. Dazu hatte Oeser in seiner Lesung dramaturgisch geschickt Schlüsselstellen ausgewählt, die er vortrug: von einem Gasangriff mit verheerenden Folgen, dem sich die alliierten Soldaten ausgesetzt sehen, ohne anfangs zu wissen, um was es sich handelt, vom täglichen Frontleben, aber auch vom Einsatz irischer Soldaten im eigenen Land gegen die eigenen Leute während des Osteraufstandes in Dublin. Der Roman vermittelt ein unglaubliches Kaleidoskop an Stimmungen und Empfindungen. Dementsprechend reichten die Reaktionen der Zuhörer im Kaisersaal von Heiterkeit bis hin zu stiller und tiefer Betroffenheit.
Hans-Christian Oeser, der in Berlin und Dublin lebt, hat die Geschichte des kleinen und unbedarften Willie Dunne, „der bis zum Schluss nicht begreift, warum er in Flandern kämpft, und nicht begreift, warum er gleichzeitig in Dublin gegen Iren marschieren muss“, sichtlich verinnerlicht und mit großartiger und treffender Wortvielfalt ins Deutsche übersetzt. Ein ausgezeichneter Roman, der Geschichtliches aufarbeitet, ohne anzuklagen und gleichzeitig dem Einzelschicksal ein Gesicht und einen Namen gibt. Ein Roman, der aber auch immer wieder Anlass zum Nachdenken gibt. So gleich zu Beginn in einer Aussage von Grettas Vater gegenüber Willie: „Das ist der Fluch, der auf der Welt liegt: Leute, die keine anderen Gedanken haben als solche, die man ihnen eingeflößt hat.“
(Gelnhäuser Tageblatt, 9. Oktober 2014)