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presse - artikel

Dietlinde Terjung

 

Identitätskrise auf der Insel

 

Lüneburg. „Wird Großbritannien im Oktober aus der EU austreten“, mit Fragen wie dieser leitete Hans-Christian Oeser die Lesung im Heine-Haus ein. Autorin Kate Connolly stellte ihr Buch „Exit Brexit. Wie ich Deutsche wurde“ auf Einladung des Literaturbüros Lüneburg in der Reihe „was uns bewegt“ in vollem Haus vor. Sie durfte nur mit Ja oder Nein antworten, bei dieser fünften Frage aber setzte sie ihrem „Nein“ aber noch hinzu, „es wird eher zusammenbrechen“.

     Die Britin, die Deutsch und Englisch in Leeds studierte, arbeitet seit 1996 als Journalistin, aktuell als Deutschlandkorrespondentin für den Guardian und den Observer. Nun ist sie unter die Autoren gegangen. „Das Persönliche und das Politische sind in diesem Buch sehr stark miteinander verwoben“, sagte Oeser, der als Literaturübersetzer und Reisebuchautor mal in Dublin, mal in Deutschland lebt. Und somit die Lesung gut zu steuern wusste.

Der Weg in die EWG war lang

 

Das Gezerre um den EU-Austritt Großbritanniens ist mit vielen Daten verbunden, auch für Kate Connolly. Insbesondere der 10. Mai 2017 spielt eine entscheidende Rolle in ihrem Leben: An diesem Tag absolvierte sie den B1-Sprach- und den Einbürgerungstest, wurde deutsche Staatsbürgerin. Eine von 558 in jenem Jahr in Berlin lebenden Briten, die zweitgrößte Bewerbergruppe, wie Oesers Recherchen ergaben.

      „Es ist kompliziert – it‘s complicated“ heißt das 1. Kapitel, das die Wahl-Deutsche vorstellt und das einen Blick in die Geschichte wirft. Sie erinnert daran, dass einst Winston Churchill die Zusammenarbeit der Länder Europas forderte, und an die Römischen Verträge von 1957, bei deren Ratifizierung sich Helmut Schmidt des Votums enthielt, weil die Briten nicht dabei waren. Und es dauerte, bis das Vereinigte Königreich zur EWG gehörte. Immer spiele wohl auch die Insellage eine Rolle, „die physische Abgeschiedenheit Großbritanniens vom Rest Europas“, wie Connolly in ihrem Buch schreibt. „Das Meer gibt vor, wo die Landesgrenze verläuft. Linien auf Karten haben etwas Willkürliches, Strände und Klippen nicht.“

      Der Tag, an dem sie vom Ausgang des Referendums erfuhr, habe sich in ihr Gedächtnis eingebrannt. Sie selbst und ihre Freundin wurden von dem Ergebnis total überrascht. Konnten Tränen und Emotionen nicht unterdrücken, so dass Connollys zweieinhalbjähriger Sohn fragte: „Mama, hast du ein Aua?“ Wohingegen die fünfjährige Tochter wissen wollte, „wohin geht England denn, wenn es Europa verlässt und ob sie Oma und Opa immer noch besuchen könnten“. Connolly erkannte ihr eigenes Land nicht wieder, „es gab tiefe Gräben auch in meiner eigenen Familie“, berichtet sie. Beim Brüten über der Steuererklärung fasste Connolly schließlich den Entschluss, die Einbürgerung zu beantragen. Sie musste die Flucht nach vorn antreten, auf Englisch: „Taking the bull by the horns“. Es dauerte allerdings elf Monate Papierkrieg bis zur Einbürgerungsfeier.

Referendum soll von Problemen ablenken

 

Wofür England stehe, wollte Oeser von der 48-Jährigen wissen. „Der Brexit hat wenig mit der EU, sondern mit eigenen Problemen zu tun. Das Referendum sollte von diesen ablenken. Die EU ist reformbedürftig, aber das sollte kein Grund sein, aus der EU auszusteigen“, betonte die Expertin. Es sei eher eine Identitätskrise.

      Auch dass die Nordirland-Problematik im Vorfeld nicht thematisiert wurde, war mehrfach ein Thema an dem lebendigen Abend im historischen Ambiente. Warum mit der Lüge, dass Großbritannien zig Millionen Pfund an die EU zahle, nicht aufgeräumt werde, wollte ein Zuhörer wissen. „Ja das war die größte Lüge“, bestätigte Kate Connolly, und sie bezweifelt die Behauptung, dass dieses Geld sodann für das Gesundheitssystem verwendet werde. Auch in Großbritannien seien Sport-, Einkaufszentren und andere Projekte mit EU-Geldern gefördert worden. „Nur, in England gibt es keine Schilder an den Baustellen, die auf die EU-Beteiligung hinweisen.“ 

    Einen ganz anderen Aspekt brachte eine Zuhörerin in Sachen Refernedums-Vokabulars ein: „Leave“ heißt es für das Verlassen der EU, ein simples, aber starkes Verb. Im Gegensatz zu „Remain“ für bleiben – ein schwaches, französisch-stämmiges, negativ besetztes Verb.

(Landeszeitung Lüneburg, 24. Mai 2019)

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