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Virginia Woolf: Mrs. Dalloway. Roman. Aus dem Englischen übersetzt, mit einem Nachwort von Hans-Christian Oeser. Stuttgart: Reclam, 2012.
Als Woolfs Gesamtwerk knapp zehn Jahre später gemeinfrei wurde, legten drei weitere Verlage mit Übersetzungen von Mrs. Dalloway nach. Gegenstand dieses Artikels sind lediglich Übersetzungen, die noch immer aufgelegt werden und derzeit im Handel verfügbar sind:
Virginia Woolf: Mrs Dalloway; übersetzt von Walter Boehlich (1997; Verlag: S. Fischer)
Virginia Woolf: Mrs Dalloway, übersetzt von Hans-Christian Oeser (2012; Verlag: Reclam)
Virginia Woolf: Mrs Dalloway, übersetzt von Hannelore Eisenhofer (2012; Verlag: Nikol)
Virginia Woolf: Mrs Dalloway, übersetzt von Kai Kilian (2013; Verlag: Anaconda)
Virginia Woolf: Mrs Dalloway, übersetzt von Melanie Walz (2022; Verlag: Manesse)
(...) Jede Übersetzung birgt also das Potenzial, eine neue Lesart des Originals zu eröffnen und jede Neuübersetzung schlägt die Brücke zur Vergangenheit, ist aber gleichzeitig in ihrerer eigenen Entstehungszeit verankert. Das alles sind wesentlich interessantere Beobachtungen als die elendige Frage nach der Relevanz.
Virginia Woolfs Mrs. Dalloway enthält sowohl auf inhaltlicher als auch sprachlicher Ebene Herausforderungen, die in jedem Jahrzehnt und jedem Kulturkreis unterschiedlich übersetzt wurden. Inhaltlich problematisch waren zunächst vor allem die homoerotischen Darstellungen und die Schilderung des Selbstmords von Septimus Smith, die oftmals entweder einer Zensur unterlagen oder abgeschwächt wurden – aus heutiger Sicht sicherlich unverständlich. Sprachlich waren die mittlerweile hundert Jahre alten Werke der Vertreter:innen des angoamerikanischen Modernismus revolutionär. Der fehlende Plot, das Wirrwarr an Erzählperspektiven, die fließenden Übergänge zwischen inneren Monologen, direkter Rede und erlebter Rede markierten den Bruch mit literarischen Konventionen.
Da sich die Lesegewohnheiten in den letzten hundert Jahren rasant gewandelt haben, ändert sich die Wirkung eines Textes. Und weil die meisten Menschen (vor allem der jüngeren Generation) näher mit der englischen Sprache vertraut sind, ist die Toleranz für die Imitation des englischen Schreibstils im Deutschen gestiegen. Dies bedeutet nicht, dass der übersetzte Text eine wortgetreue Abhandlung sein darf, sondern lediglich, dass Fremdheit im Text in einigen Fällen nicht mehr als solche identifiziert wird. Es bedeutet auch nicht, dass Virginia Woolfs Romane heutzutage einfacher zu lesen oder zu verstehen oder gar zu übersetzen wären. (...)
Bei den hier besprochenen Übersetzungen handelt es sich gewissermaßen um „moderne“ Übersetzungen von Mrs. Dalloway, die alle in einem ähnlichen Zeitfenster entstanden sind. Die Übersetzungen von Kai Kilian, Hannelore Eisenhofer und Hans-Christian Oeser wurden alle 2012 bzw. 2013 veröffentlicht, nachdem der Roman gemeinfrei wurde, und es scheint, als hätten alle Übersetzer:innen das Ziel gehabt, so viel wie möglich aus dem Original ins Deutsche zu retten – sei es die Zeichensetzung, die Wortstellung oder der ungewöhnliche Satzbau. Eine fundamental neue Interpretation des Ausgangstextes, die mal mehr oder mal weniger gelingen kann, hat hier niemand gewagt; vielleicht muss dafür noch ein bisschen Zeit vergehen, die Fallhöhe ist bei Klassikern oft hoch.
Virginia Woolf ist bekanntermaßen eine Meisterin der Bewusstseinsstromtechnik. Die wechselnde Erzählperspektive und Verwendung der erlebten Rede machen die Wahl der passenden Zeitform und richtigen Modi zu einer Herausforderung. Das Problem beginnt gleich mit den ersten Sätzen des Romans:
MRS. DALLOWAY said she would buy the flowers herself. For Lucy had her work cut out for her. The doors would be taken off their hinges; Rumpelmayer’s men were coming.
Mrs. Dalloway sagte, sie werde die Blumen selbst kaufen. Denn Lucy hatte genug zu tun. Die Türen mussten aus den Angeln gehoben werden; Rumpelmayers Männer wurden erwartet.
(Melanie Walz, 2022)
Mrs Dalloway sagte, sie werde die Blumen selbst kaufen. Schließlich hatte Lucy genug zu tun. Die Türen würden aus den Angeln gehängt werden; Rumpelmayers Männer würden kommen.
(Kai Kilian, 2013)
Mrs. Dalloway sagte, sie werde die Blumen selbst besorgen. Denn Lucy hatte alle Hände voll zu tun. Die Türen mussten ausgehängt werden; Rumpelmayers Leute würden kommen.
(Hans-Christian Oeser, 2012)
Mrs Dalloway sagte, sie selbst würde die Blumen kaufen. Denn Lucy hatte ohnehin genug Arbeit vor sich. Die Türen würden aus den Angeln gehoben werden und Rumpelmayers Männer kämen.
(Hannelore Eisenhofer, 2012)
Mrs Dalloway sagte, sie wolle die Blumen selber kaufen. Denn Lucy hatte genug zu bestellen. Die Türen würden aus den Angeln gehängt werden; Rumpelmayers Leute kämen.
(Walter Boehlich, 1997)
Zu Beginn des Romans wird berichtet, was Mrs. Dalloway gesagt hat. Im ersten Satz ist die indirekte Rede klar identifizierbar und wird auch in den Übersetzungen als solche übertragen. Eisenhofers „würde“ sticht hier direkt heraus. Zum einen ist es streng genommen nicht korrekt (obgleich die Handhabung der indirekten Rede sich schon lange jeglicher Systematik entbehrt hat), zum anderen entsteht durch das darauffolgende „würde gehoben werden“ und anschließende „käme“ eine unelegant klingende Überfrachtung des Satzes. Erwähnenswert ist zudem, dass Eisenhofer als einzige nicht der exakten Zeichensetzung des Originals gefolgt ist und anstelle des Semikolons ein „und“ eingefügt hat; vielleicht um sicherzugehen, dass die Sätze nicht abgehackt wirken. Auf jeden Fall deutet die Übersetzerin an dieser Stelle bereits an, dass sie sich in puncto Zeichensetzung und Satzbau weiter vom Original entfernen wird als einige ihrer Mitstreiter:innen.
Die ersten paar Sätze werfen Fragen auf, die sich durch den gesamten Roman ziehen werden: Wer spricht? Und wer spricht wie lange? Das Englische lässt in Redeberichten mehr Ungenauigkeiten zu, vor allem wenn die einleitenden Inquitformeln („sagte“) fehlen. Es gibt im Englischen keinen Konjunktiv wie im Deutschen, daher findet in der indirekten Rede lediglich eine zeitliche Verschiebung der Verben statt. Verbformen wie „were coming“ oder „had“ könnten somit sowohl noch immer Teil der indirekten Rede sein oder eben den Indikativ markieren. Die meisten Übersetzer:innen verwenden daher im dritten Satz den Konjunktiv, da sie ihn als Teil der indirekten Rede identifizieren. Walz hingegen übersetzt den Satz als Einzige völlig unbeirrt im Indikativ, was die ambivalente Erzählsituation im Deutschen verstärkt – denn wer erzählt hier? – und in dem Sinne die erste Loslösung vom Original markiert, die zugleich im Sinne des Originals ist. Wer die Konjunktivformen in den anderen Übersetzungen als anstrengend empfindet, mag ihr danken.
In diesem Zusammenhang lohnt sich auch ein Blick auf die letzten Sätze des Romans. Die Geschichte endet mit Clarissas Party, auf der alle wichtigen Charaktere (bis auf Septimus Smith) zusammengeführt werden. Das letzte Wort hat Peter Walsh, der Clarissa genau beobachtet und mit seinen gemischten Gefühlen ihr gegenüber hadert:
What is this terror? what is this ecstasy? he thought to himself. What is it that fills me with extraordinary excitement? It is Clarissa, he said. For there she was.
Woher kommt dieser Schrecken? Diese Ekstase?, dachte er sich. Was flößt mir so außergewöhnliche Erregung ein? Das ist Clarissa, sagte er. Denn da war sie.
(Melanie Walz, 2022)
Was ist diese Angst?, was ist dieser Taumel?, dachte er bei sich. Was ist es, das mich mit solch außerordentlicher Erregung erfüllt? Es ist Clarissa, sagte er. Denn da war sie.
(Kai Kilian, 2013)
Was ist dieser Schrecken?, was ist diese Verzückung?, dachte er bei sich. Was ist es, das mich mit solch sonderbarer Erregung erfüllt? Es ist Clarissa, sagte er. Denn da war sie.
(Hans-Christian Oeser, 2012)
Was ist das für ein Entsetzen? Was ist das für eine Verzückung?, dachte er bei sich. Was ist es, das mich mit so außergewöhnlicher Erregung erfüllt? Es sei Clarissa, sagte er. Denn da war sie.
(Hannelore Eisenhofer, 2012)
Was ist dieses Entsetzen? was ist diese Verzückung? dachte er bei sich. Was ist es, das mich mit so außerordentlicher Erregung erfüllt? Es ist Clarissa, sagte er. Denn da war sie.
(Walter Boehlich, 1997)
Eisenhofer sticht auch hier durch eine interessante, wenn auch fragwürdige übersetzerische Entscheidung hervor: „Es sei Clarissa, sagte er“, heißt es an dieser Stelle in ihrer Übersetzung. Rein grammatikalisch betrachtet ist der Konjunktiv an dieser Stelle passend, denn es gibt eine eindeutige Kennzeichnung der indirekten Rede („er sagte“). Aber es fällt dennoch auf, dass die anderen Übersetzer:innen den kurzen Satz alle anders übersetzt haben. Warum?
Die letzten Sätze folgen Peter Walshs Gedankengängen, die zunächst von rhetorischen Fragen im Indikativ durchzogen werden. Die Antwort auf diese Fragen, „es ist Clarissa“, ist ebenso Teil seiner Gedanken, er spricht vermutlich mit sich selbst, jongliert Sätze hin und her, so wie er es im restlichen Roman auch getan hat. Der Indikativ verleiht dem letzten Satz zusätzliche Prägnanz, lässt ihn wie eine unwiderrufliche Feststellung klingen; denn es ist Clarissa, die alle Gedankengänge und Handlungsstränge in diesem zusammenführt.
Es gibt jedoch noch einen anderen Grund, warum der Indikativ hier passend ist. Wenige Absätze zuvor hat Peter Walsh Clarissas Tochter auf der Party entdeckt und sagt in direkter Rede: „There’s Elizabeth“. Mit dieser Äußerung antizipiert er den Auftritt der Mutter, den er ähnlich kommentiert. Eisenhofer hat nicht nur den Satz, sondern die gesamte Unterhaltung in der er fällt als indirekte Rede übersetzt – damit die Wiederholung am Ende in ihrer Übersetzung funktioniert: „Da sei Elizabeth, sagte er“ heißt es in ihrer insgesamt unebenen Übersetzung.
Nicht unkommentiert bleiben soll Walz’ Entscheidung, die Struktur der Fragen aufzubrechen und sich vom Original loszulösen. Peters Frage „Woher kommt … ?“ betont die Suche nach dem Ursprung der Erregung. Verloren geht dabei die chiastische Struktur, die alle andere Übersetzer:innen gelungen ins Deutsche gebracht haben: „Was ist es […] Es ist Clarissa“. Auch an anderen Stellen fällt auf, dass Walz darauf verzichtet hat, andere syntaktische Wiederholungen ins Deutsche zu übertragen, obwohl dies durchaus möglich gewesen wäre.
Wiederholungen sind wichtige strukturierende und klangliche Elemente in Mrs. Dalloway. Mit dem sich mehrere Absätze lang wiederholenden Ausruf „Look!“ („Sieh nur“) weist beispielsweise Rezia ihren depressiven Ehemann an, seine Aufmerksamkeit auf die Londoner Umgebung zu richten. Wortwiederholungen verbinden zudem die Gedanken und Handlungen einzelner Figuren. „There she was“ ist ein Satz, den Peter Walsh mit Bezug auf Clarissa mindestens fünf weitere Male im Original verwendet, wann immer er in Erinnerungen an sie schwelgt. Einige Übersetzer wie Kilian oder Boehlich haben diese Wiederholung aufgegriffen und sein finales „da war sie“ bereits an vorherigen Stellen untergebracht, um die Struktur des Originals nachzuahmen.
Komplex sind in Mrs. Dalloway nicht nur Erzählstil und Wortwiederholungen, sondern auch der Satzbau. Dabei sind nicht zwangsläufig die gefürchteten Schachtelsätze schwierig; auch kurze Kommentare können tückisch sein. „Musing among the vegetables?“, fragt Peter Walsh Clarissa. Auf Deutsch kann die Frage entweder ausformuliert so „Grübelst du mitten im Gemüsebeet?“ (Oeser) oder verkürzt so „Grübelei im Gemüse?“ (Kilian) klingen, wobei Letzteres aufgrund seiner Präzision vorzuziehen wäre. Hier ein weiteres Beispiel, wie unterschiedlich kurze Sätze klingen können:
“Where are you off to?”
«Wohin des Weges?»
(Melanie Walz, 2022)
«Wohin des Weges?»
(Kai Kilian, 2013)
»Wohin des Weges?«
(Hans-Christian Oeser, 2012)
»Wohin des Weges?«
(Hannelore Eisenhofer, 2012)
»Wohin führt Sie der Weg?«
(Walter Boehlich, 1997)
Hugh Whitbread, ein alter Freund Clarissas, läuft ihr zufällig in London über den Weg und stellt diese Frage. Die kurze Unterhaltung, bei der sich Clarissa mehr Gedanken über ihren Hut macht als über die Antworten von Hugh Whitbread, ist nichts weiter als typisch englischer Small Talk. In diesem Sinne trifft das „Wohin führt Sie der Weg?“ mit seiner steifen Sie-Form nicht ganz den ungezwungenen Plauderton des Originals. Oftmals hat das Englische den Ruf, knappere und prägnantere Formulierungen hervorzubringen als das Deutsche, wo so einiges in Nebensätze verpackt wird. Viele Mrs.-Dalloway-Übersetzungen zeigen aber, dass auch die deutsche Sprache überaus kompakt sein kann.
Das Zitat deutet außerdem das Alleinstellungsmerkmal der Übersetzung von Kai Kilian an. Anders als seine Mitstreiter:innen übersetzt Kilian Verkürzungen bzw. baut diese ein, um Umgangssprachlichkeit zu suggerieren. „I’ll give it you!“ wird bei Kilian zu „Euch zeig ich’s!“ (Walz schreibt das „es“ an dieser Stelle aus). Und den Satz „You’ll get married, for you’re pretty enough“ übersetzt er als „Heiraten wirste, hübsch genug biste ja“. Die Äußerung stammt von Mrs. Dempster, einer einfachen alten Frau, die auf einer Londoner Parkbank über ihr Leben nachdenkt. Der umgangssprachliche Tonfall ist somit recht treffend, weil er nicht zu übertrieben eingesetzt wird. Im Gegensatz dazu übersetzt beispielsweise Boehlich den Satz etwas formell als „Du wirst heiraten, denn du bist hübsch genug“, was keinen eigenen Figurensprech erkennen lässt.
Die meisten Übersetzer:innen haben im Fall von Mrs. Dalloway generell die Tendenz, den Satzbau sehr nah am Original gestalten zu wollen:
Then Clarissa, still with an air of being offended with them all, got up, made some excuse, and went off, alone.
Dann stand Clarissa mit einer Attitüde auf, als hätten alle sie gekränkt, entschuldigte sich irgendwie und ging allein aus dem Zimmer.
(Melanie Walz, 2022)
Dann, noch immer mit einer Miene, sie fühle sich von allen beleidigt, stand Clarissa auf, schützte irgendetwas vor und ging, allein.
(Kai Kilian, 2013)
Dann stand Clarissa auf, noch immer mit einer Miene, als hätten alle sie gekränkt, brachte eine Entschuldigung vor und ging hinaus, allein.
(Hans-Christian Oeser, 2012)
Dann stand Clarissa auf, die immer noch die Miene trug, als wäre sie beleidigt worden, entschuldigte sich und ging allein hinaus.
(Hannelore Eisenhofer, 2012)
Dann stand Clarissa, immer noch mit einer Miene, als sei sie von allen gekränkt, auf, tat, als entschuldigte sie sich, und ging, allein.
(Walter Boehlich, 1997)
Ohne ein Prädikat ergibt eine wortwörtliche Übersetzung des durch ein Komma getrennte „Then Clarissa“ zu Beginn des Satzes keinen Sinn. Folglich besteht die Option, das Prädikat („got up“) nach vorne zu ziehen oder Clarissas Namen später zu erwähnen (siehe Kilian). Am ausladendsten ist die Lösung von Boehlich, der das „auf“ nach hinten zieht und durch zwei Kommas vom ersten Teil trennt. Darauf folgen lediglich noch mehr Kommas, die weniger den Eindruck der Kontrolle, sondern eher des totalen Entgleitens des Satzes vermitteln. Kontrastprogramm bieten an dieser Stelle Walz und Eisenhofer, die alles sorgfältig sortieren, aber auch glätten. Clarissa beleidigt in dieser Szene ihre engste Freundin und fällt kurz in Ungnade. Aus diesem Grunde bietet das nachgeschobene, syntaktisch allein stehende „allein“ zusätzliche Emphase, die auch im Deutschen möglich gewesen wäre.
Die Mrs.-Dalloway-Übersetzungen unterscheiden sich auch darin, welche Wörter ihre Verfasser übersetzen und welche sie unübersetzt lassen. In Walz’ Übertragung veranstaltet Clarissa keine „Gesellschaft“, sondern wie im Englischen eine „Party“; die Figuren gehen in die „Music Hall“ und nicht ins „Varieté“ und Hugh Whitbread wird als „Public-School-Abgänger“ bezeichnet. Für viele deutschsprachige Leser:innen wird das potenziell missverständlich sein, da sich hinter dem britischen Begriff „public school“ nicht die staatlichen, sondern die privaten Schulen verbergen. Im Originaltext gibt es zudem ein herausgestelltes Shakespeare-Zitat, das Clarissa in einem Buch liest: „Fear no more the heat o’ the sun Nor the furious winter’s rages“. Warum einige Übersetzer (beispielsweise Boehrlich) das Zitat im Original stehen lassen und dessen Übersetzung in den Fußnoten verbergen, wo dann wiederum zwei verschiedene Übersetzungen zitiert werden, ist fragwürdig. Leser:innen, die über keine Englisch-Kenntnisse verfügen, können auf diese Weise nicht im Fließtext verstehen, was Clarissa genau liest.
Die folgende Szene bietet ein weiteres Beispiel für eine nicht-übersetzte Nuance und zeigt den zurückhaltenden Stil, zu dem einige Übersetzer:innen stellenweise tendieren. Wir sind mitten im Londoner Trubel und ein Wagen fährt vor, der allerlei Spekulationen auslöst:
Edgar J. Watkiss, with his roll of lead piping round his arm, said audibly, humorously of course: “The Proime Minister’s kyar.”
Edgar J. Watkiss, mit seiner Kabelrolle um den Arm, sagte hörbar und natürlich scherzhaft: «Dör Wogen des Prominierministers.»
(Melanie Walz, 2022)
Edgar J. Watkiss, mit seiner Rolle Bleirohre um den Arm, sagte vernehmbar, im Scherz natürlich: »Dem Prömjehminister sein Wagn.«
(Kai Kilian, 2013)
Edgar J. Watkiss, sein Bündel Bleirohre unterm Arm, sagte hörbar, humorvoll natürlich: »Die Karosse des Herrn Premierministers.«
(Hans-Christian Oeser, 2012)
Edgar J. Watkiss, mit seiner Bleirohrrolle um den Arm sagte hörbar und natürlich im Spaß: »Der Wagen von dem Premierminister.«
(Hannelore Eisenhofer, 2012)
Edgar J. Watkiss, mit seiner Bleirohrrolle um den Arm, sagte hörbar und, natürlich, witzig: »Dem Premierminister sein Wagen.«
(Walter Boehlich, 1997)
Der Witz besteht darin, dass Watkiss dem Wagen eine Bedeutung zuschreibt, die ihm mit hoher Wahrscheinlichkeit gar nicht zusteht. Aus dem Original geht jedoch klar hervor, dass der Witz auch darin liegt, wie sich Watkiss ausdrückt. „Witzig“ steht bei Boehrlich an letzter Stelle des einleitenden Satzes und soll den Ausspruch als solchen charakterisieren. Aber was genau an „Dem Premierminister sein Wagen“ witzig sein soll, wenn man den Satz ohne jegliche sprachliche Verzerrung übersetzt, bleibt unklar. Man wünscht sich stattdessen, dass einige Übersetzer:innen angesichts der großen Virginia Woolf manchmal weniger einknicken würden.
Die Neuübersetzung durch Melanie Walz schreckt vor solchen Stellen weniger zurück. Walz orientiert sich insgesamt nicht unbedingt weniger eng am Original als ihre Vorgänger:innen, aber sie nimmt sich Freiheiten. Im direkten Vergleich fallen ihre Loslösungen vom Ausgangstext besonders auf. So baut sie klangliche Spielereien und eigenwillige Interpretationen ein, die sich nicht in den anderen Übersetzungen finden lassen. Eine beiläufige Bemerkung wie „Ah yes, she did of course“ wird zu „Ach ja, sie verstand selbstverständlich“ und in ihrer Übersetzung „lächelt“ Peter, „als er seine neue Frau derart lächerlich Clarissa präsentierte“ („he smiled as he placed her in this ridiculous way before Clarissa“). Und während beispielsweise Boehrlich „He pursued; she changed“ mit „Er setzte ihr nach; sie wechselte“ runter übersetzt, baut Walz einfach ein Stilmittel ein: „Er verfolgte sie, sie veränderte sich“.
Als Clarissa über ihre Erzfeindin Miss Kilman nachdenkt, deutet Walz Clarissas Abneigung an Stellen an, wo andere sie eher übergehen. Clarissas Mann Richard sagt über Miss Kilman: „[she] had a really historical mind“. Kilian übersetzt das als „sie […] habe wirklich Sinn für Geschichte“; Walz hingegen neigt mit „sie […] habe einen wahrhaftig historisch versierten Verstand“ zur Übertreibung, die dem ganzen einen ironischen Unterton verleiht bzw. ihn verstärkt, da dieser bei Virginia Woolf fast immer vorhanden ist. Die Strategie setzt Walz in dem Absatz weiter fort, wo Clarissa über Kilmans Verhalten nachdenkt und zu einem „Quälgeist in ihrem grünen Regenmantel“ macht. Das Wort „Quälgeist“ findet sich in keiner anderen Übersetzung; Walz fügt die Bezeichnung hier ein, weil Clarissa den Umgang mit ihr als „Private inflicted positive torture“ (was sich sehr schwer übersetzen lässt) charakterisiert.
Um die Eigenwilligkeit der Walz’schen Übersetzung in Gänze nachvollziehen zu können, schauen wir uns ein letztes Beispiel an. Ausrufe mitten im Text, unvollendete Gedankengänge, Einschübe und Aufzählungen sind typisch für Virginia Woolf:
June, July, August! Each still remained almost whole, and, as if to catch the falling drop, Clarissa (crossing to the dressing-table) plunged into the very heart of the moment, transfixed it, there—the moment of this June morning on which was the pressure of all the other mornings, seeing the glass, the dressing-table, and all the bottles afresh, collecting the whole of her at one point (as she looked into the glass), seeing the delicate pink face of the woman who was that very night to give a party; of Clarissa Dalloway; of herself.
Juni, Juli, August! Jeder dieser Monate war noch beinahe unangetastet, und als wollte sie den fallenden Tropfen auffangen, versetzte Clarissa sich in die Seele dieses Augenblicks, bannte sie an dieser Stelle – in dem Augenblick dieses Junimorgens mit dem Gewicht aller anderen Morgen und dem gleichsam neuen Anblick des Spiegels, des Toilettentischs und all der Flakons, konzentrierte ihr ganzes Wesen (als sie in den Spiegel blickte), sah das zarte rosige Gesicht der Frau, die an diesem Abend eine Party geben würde, das Gesicht Clarissa Dalloways: ihr Gesicht.
(Melanie Walz, 2022)
Juni, Juli, August! Sie lagen fast gänzlich noch vor ihr, und wie um den fallenden Tropfen aufzufangen, stürzte Clarissa sich (auf dem Weg zum Frisiertisch) mitten ins Herz des Augenblicks, ließ ihn erstarren, dort – den Augenblick dieses Junimorgens, auf dem der Druck aller anderen Morgen lag, sah den Spiegel, den Frisiertisch und all die Flakons aufs Neue, bündelte ihr ganzes Wesen in einem Punkt (als sie in den Spiegel schaute), sah das zarte rosa Gesicht der Frau, die an ebendiesem Abend eine Gesellschaft geben würde; Clarissa Dalloways; ihr eigenes.
(Kai Kilian, 2013)
Juni, Juli, August! Jeder davon war fast noch vollständig, und als wolle sie den fallenden Tropfen erhaschen, tauchte Clarissa (als sie zum Toilettentisch ging) in das Herzstück des Augenblicks ein, bannte ihn, hier – den Augenblick dieses Junimorgens, auf dem das Gewicht all der anderen Morgen lag, sah den Spiegel, den Toilettentisch und all die Fläschchen wie von neuem, sammelte ihr ganzes Selbst in einem einzigen Punkt (als sie in den Spiegel blickte), sah das zarte rosige Gesicht der Frau, die an diesem Abend eine Gesellschaft geben würde; Clarissa Dalloways; ihres.
(Hans-Christian Oeser, 2012)
Juni, Juli, August! Und jeder von ihnen fast unversehrt, und als ob sie den fallenden Tropfen auffangen wolle, stürzte Clarissa (während sie hinüber zum Frisiertisch gin) in das Allerinnerste des Augenblickes, durchbohrte ihn, dort – der Augenblick dieses Junimorgens auf dem der Druck aller anderen Morgen lag, sah sie den Spiegel, den Frisiertisch und alle Fläschchen von neuem, sammelte ihr ganzen [sic!] Wesen in einem einzigen Punkt (als sie in den Spiegel sah), sah das zartrosa Gesicht einer Frau, die heute Abend eine Gesellschaft geben würde; Clarissa Dalloway sah sich selbst.
(Hannelore Eisenhofer, 2012)
Juni, Juli, August! jeder voll [sic!] ihnen wartete noch fast unversehrt, und wie wenn sie den fallenden Tropfen auffangen wollte, sprach Clarissa (zum Frisiertisch gehend) ins tiefste Innere des Augenblicks, durchbohrte ihn, da – den Augenblick dieses Junimorgens, auf dem das Gewicht all dieser anderen Morgen lag, sah den Spiegel, den Frisiertisch, all die Fläschchen wie zum ersten Mal, sammelte ihr ganzes Wesen in einem einzigen Punkt (als sie in den Spiegel blickte), sah das zarte rosige Gesicht der Frau, die heute abend eine Gesellschaft geben würde; Clarissa Dalloways; ihres.
(Walter Boehlich, 1997)
Jeden Gedankenstrich, jede ungewöhnliche Wortstellung, jeder Einschub hat bei Virginia Woolf eine Bedeutung, die es ins Deutsche zu bringen gilt – sie ist nun mal als große Stilistin bekannt. Das Bestreben, ihren Stil so genau wie möglich auch im Deutschen zu imitieren, ist daher nachvollziehbar. Aber muss es immer so eng sein? Im Fall von Mrs. Dalloway wird deutlich, dass die Übersetzer:innen sehr bemüht sind, so nah am Text wie möglich übersetzen wollen, um jeder noch so kleinen Nuance gerecht zu werden.
Auffällig ist auch hier wieder, dass Walz einen anderen Weg einschlägt als ihre Vorgänger:innen (sicherlich ein Luxus, den man hat, wenn es schon viele Übersetzungen gibt). Der Augenblick hat bei Walz kein Herz, sondern eine „Seele“, die Clarissa bannt – es verleiht dem Ganzen etwas Mystisches, das durchaus zur weißhaarigen, oftmals enigmatischen Clarissa passt. Im letzten Satz des Zitats gibt es einen erkennbar klimatischen Aufbau. Clarissa erkennt das Gesicht einer Frau, das sie schließlich als ihr eigenes identifiziert. In Walz’ Übersetzung wiederholt sich das Wort „Gesicht“, wodurch die Bezüge deutlicher hervorgehoben werden. In anderen Übersetzungen stehen an dieser Stelle recht einsame Genitivformen, die durch einen klassisch Woolf’schen Einschub vom Rest getrennt wurden und nicht ganz die volle Wirkung erzielen.
Die Frage ist: Funktioniert diese Strategie innerhalb der gesamten Neuübersetzung? In den allermeisten Fällen durchaus. Es gibt Stellen (wie das Ende), an denen man die Herangehensweise infrage stellen könnte, aber insgesamt ist die Neuübersetzung lesbar, melodisch und bemerkenswert ungekünstelt. Ist die Neuübersetzung nun besser als vorherige Übersetzungen? Nicht unbedingt. Die aufgegriffenen Eigenheiten der Übersetzung sollen vor allem auf die unterschiedlichen Textauslegungen hinweisen. Walz’ Übersetzung ist jedoch keineswegs radikal anders als die ihrer Vorgänger:innen. Und die anderen Übersetzungen sind wiederum keineswegs schlecht.
Zwei der Übersetzungen schaffen es nicht, gänzlich zu überzeugen: Die Fassung von Walter Boehrlich geriet etwas zu starr und förmlich, während Hannelore Eisenhofer offenbar mit der Sprache zu kämpfen hatte. Aber die Übersetzungen von Kai Kilian und Hans-Christian Oeser sind genau wie die schöne Neuübersetzung durch Melanie Walz empfehlenswert. Diese erschien genau rechtzeitig: In wenigen Wochen ist wieder Juni – ein guter Anlass also, um Mrs. Dalloway neu zu entdecken und mit Clarissa durch die Straßen Londons zu flanieren.
(Julia Rosche, Mrs. Dalloway im 21. Jahrhundert, In: TraLaLit Magazin für übersetzte Literatur, 4. Mai 2022)